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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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hinsehen, finde ich.«
    »Ja, man muß hinsehen.«
    Eine Zeitlang waren ihnen die Gedanken ausgegangen, sie standen am Sims und ließen gemeinsam den düsteren Anblick auf sich wirken, unbehaglich, fand sie, denn ein ästhetisches Urteil fühlt sich oberflächlich an, wenn man es mit einem Fremden teilt, und schließlich spürte sie ein Knistern, eine Unruhe in seinem Verhalten, die einen Themenwechsel kennzeichnen sollte, aufrichtig und entschlossen, und immer noch auf die Türme schauend sagte er zu ihr, flüsterte, genauer gesagt: »Ich mag Ihre Arbeiten, wissen Sie.«
    »Ja?«
    »Sehr ansprechend.«
    In manchen Nächten war es so feucht, daß man seine Tür nicht zukriegte. Man mußte sie mit der Schulter zudrücken. Brücken dehnten sich aus, und Bürgersteige bekamen Risse, und Müll lag auf den Straßen, und man mußte gewissermaßen mit seiner Tür reden, bevor sie einem den Gefallen tat, sich zu schließen.
    Sie genoß die Nächte, die elektrisch waren, statisch aufgeladene Luft und weich zuckender Blitz in großen, formlosen Beats, man konnte fast das rhythmische Muster lesen, langsam und protoplasmisch, vielleicht eine Cinzano-Markise, an einem Tisch auf einer Terrasse weiter oben befestigt – diesen Klang wie ein Schuß kann man nicht identifizieren, bis man nicht die gestreifte Markise entdeckt hat, deren Ecken im Wind klatschen.
    Klara im Glück, allerdings war sie auf der Hut, hielt sich zurück. Sie verspürte so etwas wie Privilegiertheit, ihre letzten Arbeiten waren ziemlich gut angekommen, und sie fühlte sich wieder wohl nach einer Phase von Rückenschmerzen und Schlaflosigkeit, klar im Kopf nach einer kurzen Depression, sparsam nach einem Anfall von Konsumrausch, sie ging aus und traf Freunde und stand an Geländern, in stillem Glück, und sie sah so gut aus wie seit Jahren nicht – sagten alle.
    Das war zu der Zeit, als Nixon stürzte, aber sie genoß es nicht so wie ihre Freunde. Nixon erinnerte sie an ihren Vater, noch so ein Mann mit fransigem Hirn, jeder einzelne Schritt eingeübt, sein körperliches Auftreten zuweilen bitter und distanziert, mit der Gebeugtheit eines Verlierers, nur Kopf und Hände.
    Sie stand an Geländern oder Simsen und fragte sich, wer diese Steine bearbeitet, wer diese Details bis in die feinsten Nuancen gehauen hatte, die Zickzackleisten und Rosetten, die Urnen auf Balustraden, die klassischen Girlanden aus Früchten, die spiralförmigen Tragsteine, die einen Balkon stützten, und sie dachte, das müssen Einwanderer gewesen sein, wahrscheinlich italienische Steinmetze, unerinnert, anonyme Künstler vom Anfang des Jahrhunderts, begraben im Himmel.
    Sie war es nicht gewöhnt, erkannt zu werden. In bestimmten Situationen geschah das, aber nur selten, und es gab ihr ein Gefühl, als nähme jemand ihre Körpermaße in einem kleinen verspiegelten Raum. Sie blieb lieber unbemerkt, außer von Freunden. Sie war meistens unsichtbar, menschlich unsichtbar für die Leute auf dem Markt weiter unten an der Straße, und nicht nur die jüngeren hasteten in den Gängen an ihr vorbei, an ihrer verschwommenen Gestalt aus dem unscharfen Stoff des mittleren Alters, sondern die Leute im allgemeinen – na schön, die Männer im allgemeinen – erkannten ihr bestenfalls Gattungsstatus zu.
    Das war kein Problem. Sie war nicht einsam oder ungeliebt. Nun ja, sie war im tieferen Sinne des Wortes schon ungeliebt, aber das war in Ordnung, sie hatte genug Liebe der tieferen Art erlebt, schmerzhaft und ewig nachhallend, die nachtragenden Ehen, die es einem schwermachen, sich eine verläßliche Einsamkeit zu erarbeiten. Es geschah aus reiner Neugier und einer stärkenden Form der Selbstbewußtheit, daß sie lernte, ungesehen zu bleiben.
    Miles Lightman kam in diesem Sommer oft vorbei. Er hatte etwas an sich, das bei ihr den Eindruck erweckte, als äße er von schmutzigen Tellern, aber sie gewöhnte sich allmählich an ihn, mochte ihn immer lieber – er war energisch und unreflektiert, im wesentlichen kunstfremd, unbeleckt von den Eitelkeitsmustern, die manch eine knospende Liebe ruinieren.
    Sie trug lange Rüschenröcke, sie trug Jeansröcke mit blumengemustertem Saum.
    Sie stand auf dem Dach eines Fabrikgebäudes, der Raum war für diesen Abend organisiert worden, damit eine kleine Theatertruppe eine Sponsorenparty veranstalten konnte, und fünfzig Menschen tranken lauwarmen Wein aus Plastikbechern und sagten, Wir brauchen das Theater.
    Sie stand am Sims und redete mit einer Frau, die sie nicht

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