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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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sich aufdrängte wie eine anrückende Wetterfront.
    Im Loft sagte Teresa: »Er hört den ganzen Tag Opern. Den ganzen Sommer lang, bis die Schule wieder losgeht. Er will, daß Tante Laura bei ihm einzieht. Sie wird, wie soll ich sagen, nicht senil, nur ein bißchen wacklig, Laura, aber ich glaube, sie würde lieber allein leben.«
    Klara hörte den schleppenden Ton in der Stimme ihrer Tochter, die alten malträtierten Vokale, wie merkwürdig, die Geräusche ihres Viertels so nah und vom eigenen Kind zu hören, das die Färbung zu übertreiben schien, das Herumlungernde dieses Akzents, eine Art der Betonung und Aussprache, der ihr Vater und ihre Mutter entronnen waren – das ist das richtige Wort, entronnen –, als müßte die junge Frau noch weiter zurückgehen, eine weitere Grenze überschreiten, eine Ebene tiefer in das Leben der Straßen eintauchen, um eine Aussage über Dauerhaftigkeit und Treue machen zu können.
    Seit Jahren hatte sie Farbe aus ihrem Werk gezogen. Eine Zeitlang benutzte sie Bitumen und Außenanstrichfarbe. Sie mischte die Farben gern in Muschelschalen, die sie vor zehn, zwölf Jahren aus Maine mitgebracht hatte. Aber inzwischen war da weniger zu mischen. Es fühlte sich richtig an, die Farbe rauszuziehen.
    Sie ging zum Markt hinunter, an einer Galerie vorbei, schon wieder eine neue, es gab jetzt lauter Galerien und Geschäfte, aber die schmiedeeisernen Fassaden waren vor der Abrißbirne sicher, das war die Hauptsache – die alten Fabriken, wo Einwanderer Knöpfe und Anzüge hergestellt, wo Frauen und Mädchen Achtzehn-Stunden-Tage gearbeitet hatten, und sie kaufte ein Päckchen Zucker auf dem Markt, sonst vergißt sie's noch, und zehn Monate vergehen, und dann steht Teresa wieder da.
    Kunst, in der der Augenblick heroisch ist, amerikanische Kunst, nach dem Motto: Tu's jetzt, oder: Scheiß auf die Vergangenheit – da konnte sie nicht folgen. Sie konnte so etwas anschauen und respektieren, es in gewisser Weise sogar beneiden, aber sie konnte nicht selbst Hand anlegen und irgendein wüstes Jetzt produzieren, eine brillante Onaniergeste, die Unabhängigkeit behauptete.
    Sie sagte am Telefon zu einer Freundin, zu ihrer Freundin und Galeristin Esther Winship, die immer bereit war, einem Maler oder Bildhauer einen Rat zu geben, den verwaschenen Künstler in eine handfeste Strategie, einen klaren Aktionsplan hineinzurüffeln, dabei brauchte eigentlich Esther Hilfe, Esther in ihrem Chefinnen-Outfit, ihren Perlen und Nadelstreifenanzügen, die Maler verlor und von ihrem Hausbesitzer nach uptown gedrängt wurde und sich selber leid tat, und sie sagte am Telefon zu Esther: »Hey, hör mal, ich werde wieder mit der Arbeit anfangen, wenn du mich aufs Land einlädst.«
    »Vergiß mal das Land. Ich hätte gern, daß du mit mir in die Bronx fährst.«
    »Was gibt's in der Bronx?«
    »Einen Typen, der Graffiti macht. Er bemalt Züge, U-Bahnen, ganze Züge, er bemalt jeden Wagen eines U-Bahn-Zugs. Ich will ihn unter Vertrag nehmen und seine Sachen zeigen. Aber erst mal muß ich ihn finden.«
    »Wie willst du seine Sachen zeigen?«
    »Ich werde ihm eine Mauer geben«, sagte sie.
    Klara mußte zugeben, das klang gut. Vielleicht war das der erste Schritt, um später zu sagen, Ich werde ihm ein Haus geben, ich werde ihm einen Häuserblock geben. Und Esther hatte auch gewollt, daß es genauso klang. Man lebt länger und schläft besser, wenn man solche Dinge sagen kann. Ich werde ihm einen Zug mit hundert Wagen geben.
    »Warum brauchst du Hilfe, um ihn zu finden?«
    »Ich kenne seinen Namen nicht. Ich kenne nur sein tag. Moon-man 157.«
    »Klingt bekannt«, sagte Klara.
    »Du hast seine Graffiti schon gesehen. Alle haben sie gesehen. Der Junge ist ein Meister, verdammt.«
    Sie liebte die Wassertanks, die sie von den Dächern aus sah, überall hockten sie drauf, altes braunes Holz mit Deckeln wie Kulihüten. Oft waren die Tanks an Ort und Stelle gebaut worden, so wie man ein Faß herstellt, vernutete Dauben, die von Metallreifen zusammengehalten wurden, und natürlich die Zwillingstürme in der Ferne, ein Modell kolossaler Massenproduktion, Einheiten, die identisch vom Fließband rollen und in unserem Supermarkt landen, mit dem Tagespreis bestempelt.
    Miles war jünger als Klara, acht oder neun Jahre vielleicht, und er sah noch jünger aus, dermaßen frei von jeder Verantwortung und jeder Verbindung mit den Dingen der Wirklichkeit, daß er ihr vorkam wie ein stets willkommener und schwereloser Zustand, jemand, der

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