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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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kannte, und irgendwann begriff sie, daß das Gebäude gegenüber, etwa zehn Blocks weiter uptown, ein etwas älterer Turm mit einer massigen Leibesmitte und einer Mosaikspitze, das Fred-F.-French-Building war.
    Sie versuchte, der Frau zuzuhören, konnte sich aber nicht konzentrieren, weil der Name ihr ganzes Gehirn erhellte, einer dieser tiefgehenden, reinen Blitzschläge, die vierzig Jahre Anlauf brauchen.
    Fred F. French. Die Geschichte mußte sie Miles erzählen, denn sie war witzig und schräg, und Klara wollte sich ihr voll und ganz hingeben, raus damit und durchgearbeitet und Einzelheiten draufgepackt. Die männermordende Rochelle und der geile Junge auf dem Rücksitz, und sie kam natürlich auch drin vor, Klara Sachs ohne x, wie sie ging und sprach, wie die Dinge wirklich waren, wie sie wirklich war – wie das ging, hatte sie heute längst vergessen.
    Von den hohen Fenstern ihres Lofts aus sah sie verwinkelte und abgesetzte Feuerleitern, darauf beschränkte sich ihre Aussicht, dunkle Metallstrukturen, die sich in der Tiefe kreuzten, oberhalb der abgelegenen Seitenstraßen, und sie fragte sich, ob diese Linien ihr etwas zu sagen hatten.
    Lofts waren vielleicht gefährlich, dachte sie, aber nicht in punkto Feuer – geräumig und säulengestützt und erinnerungsreich und großartig. Sie mußte aufpassen, daß sich kein Ego einschlich. Sie mußte sich fragen, Würdest du dieses Objekt ehrlicher machen, wenn du irgendwo in einer kümmerlichen Mansarde arbeiten müßtest? Sie versuchte, ihre Arbeit an der menschlichen Gestalt auszurichten, obwohl sie gar nicht figürlich arbeitete. Sie war auf der Hut vor Ego, Heros, Höhe und Größe.
    Das war der Stoff der Dachterrassen-Beredsamkeit. Bewundern, aber nicht wetteifern.
    Ihre Tochter war in der Stadt, und sie schlenderten durch das schmiedeeiserne Viertel, gingen zum Lunch ins Village, kauften ein bißchen ein, und es war schwer. Es war immer schwer mit Teresa, sie strahlte etwas Entsagungsvolles aus, eine Reizlosigkeit, die beharrlich wirkte – sie hatte Übergewicht, war bewußt unhübsch und schien ständig zu sagen, Daddy liebt mich, so wie ich bin, aber meine Mutter nicht, meine Mutter denkt, ich könnte besser und klüger sein und bessere und klügere Leute kennen.
    Sie hörte Schüsse und schaute hoch und sah die Cinzano-Markise und bemerkte, wie sie am Rand im Flußwind flatterte.
    Teresa war fünfundzwanzig, sah aber alters- und formlos aus, und für Klara war der schwerste Teil des Besuches gekommen, als sie im Loft saßen und redeten oder vielmehr die Schweigemomente aussaßen, und als sie herausfand, daß ihre Tochter Zucker in den Tee nahm und keiner da war.
    »Du solltest Daddy besuchen«, sagte Teresa. Und das meint sie als Provokation, eine Form der Rüge, die nichts mit einer Zugfahrt in die Bronx zu tun hat. »Das ist keine gute Idee. Glaub's mir.«
    »Ich fasse es einfach nicht, daß du in derselben Stadt wohnst und nicht ein einziges Mal.«
    »Ehrlich gesagt könnte ich in derselben Straße wohnen. Es hat nichts damit zu tun, wo wir wohnen, weißt du. Es kann nichts dabei herauskommen, das weiß er, und ich weiß es auch.«
    Sie läßt die Tatsache unausgesprochen, daß Teresa es auch weiß.
    »Warum muß immer was dabei herauskommen? Warum überall die Frage nach dem Nutzen?«
    »So viele Jahre, Teresa. Was soll das?«
    Wieder Schweigen, Klirren von Teegeschirr, dann Trucks an den Laderampen in der Straße, Lastwagen mit verbeulten Metallwänden und ohne Firmennamen.
    »Du hast noch nicht mal Süßstoff?«
    Klara schaute aus den Fenstern auf die Feuerleitern, die Rückseiten grauer Gebäude, was für eine Ansammlung von glänzendem Eisen und Rostpilz und abblätterndem Backstein.
    »Wie geht es ihm?« fragte sie.
    »Was? Ganz ordentlich. Er will nicht in ein neues Haus umziehen. Und das, wo er jetzt wohnt, wird langsam lächerlich.«
    Überall, wo sie hinkamen, lag Müll in schwarzen Säcken gestapelt. Jetzt war der siebte Tag des Streiks, und es hatte eine Reihe gewalttätiger Zusammenstöße gegeben, ein privater Mülltransporteur war fast zu Tode geprügelt worden. Teresa sagte nichts zu den Abfallbergen, an manchen Stellen fünfzig Säcke, denn sie lebte in Vermont, was konnte sie da sagen? Aber sie benutzte den Müll gegen ihre Mutter. Der Müll war eine andere Form der Anklage, er ging telepathisch zwischen ihnen hin und her, einhundert Säcke an einer Ecke und ein derart sommer-üppiger Geruch, daß er den ganzen Körper einhüllte,

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