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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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Gesicht, und es begann zu kreischen und zu knistern, und dann ging das Licht wieder aus, und das Nachbild von Lennys talgigem Gesicht haftete auf der Netzhaut aller Anwesenden, das halbe, verschreckte Grienen, das sich über den Mund zog, und das Baby fing an zu weinen.
    Als das Licht wieder anging, ein zwanzig Sekunden langes Leben später, war die Bühne leer, die Metalltür angelehnt, die Show war ganz offensichtlich vorüber.
    14. JUNI 1957
    Wochen vergingen, in denen wir kaum schliefen. Wir waren drei oder vier Wochen lang Tag und Nacht jede Stunde zusammen, jedenfalls die meiste Zeit und meistens in ihrem Auto, wir aßen und schliefen dort, schliefen auch in ihrem Auto miteinander, schliefen und wachten auf und sahen uns um, und es war immer noch dunkel oder immer noch hell, je nachdem, und schließlich hielten wir aus dem einen oder dem anderen Grund an, ob logisch oder nicht, und das Leben verlangsamte sich so weit, daß die Dinge ganz normal in einem Zimmer passieren konnten, aber nur, bis es wieder Zeit wurde, dann rumpelte sie in dem leicht frisierten Benz Jahrgang 1950 mit dem tiefergelegten Chassis heran, und wir steuerten weiter gen Westen.
    »Behalt deine Träume für dich«, sagte ich.
    »Aber du mußt das hören.«
    »Ich will es nicht hören.«
    »Du Dreckskerl, du mußt es hören«, sagte Amy, »weil alles, was geschieht, uns beiden zusammen geschehen muß.«
    »Weißt du nicht, daß die Leute die Träume der anderen Leute nicht hören wollen?«
    »Dreckskerl, was denn für Leute? Wer sind diese anderen Leute?«
    »Guck auf die Straße.«
    »Wir haben doch gesagt, wir würden selbst den kleinsten Gedanken miteinander teilen.«
    »Guck auf die Straße. Fahr«, sagte ich zu ihr.
    Und einmal setzte ich sie in Santa Fe ab, wo Freunde ihrer Familie wohnten, und behielt das Auto und hörte kein Radio und las keine Zeitung, und sie holte mich eine Woche später in einer Bergmannsbar in Bisbee, Arizona, wieder ein, und wir spielten eine flirtige Partie Lügenpoker und stiegen die hohen, engen Straßen hoch und fühlten etwas so Starkes und wußten, der andere fühlte es auch, daß wir glaubten, unsere Gesichter müßten gleich explodieren.
    »Es war ein Traum in den Bergen. Ein hoher, heller Ort an einem See.«
    »Weißt du nicht, daß Träume nur für den Träumenden interessant sind?«
    »Du hältst dich wohl für besonders welterfahren. Irre clever für einen Ausländer.«
    »Fahr.«
    »Der erst Englisch gelernt hat, als er New York verließ.«
    Amy war groß und patent und sah in Jeans gut aus. Sie wußte, wie Dinge getan und gemacht wurden, und selbst ihr gutes Aussehen wirkte patent, eine Art gerader, unkomplizierter Geschicklichkeit, offen und helläugig, dazu hingepladderte, verblassende Sommersprossen und ein verdorbenes Lächeln.
    Und einmal waren wir in Yankton, South Dakota, früher in jenem Sommer, und das Kino war gerade aus, es hieß The Dakota, mit einer grell gekachelten Fassade und Audie Murphy auf dem Vordach, und die jungen Leute von Yankton stiegen in ihre Autos und fuhren die Hauptstraße rauf und runter, und wir auch, wir schliefen fast ein dabei, und wir gingen ins Drive-in-Kino und redeten über das Leben, und wir fuhren über die Prärie und redeten über Filme, und wir fuhren durch Waschanlagen und lasen uns Gedichte vor, der eine dem anderen, und seifiges Wasser glitschte an den Fenstern herab.
    Ihr Auto war schwarz und sah aus, als trüge es eine Kapuze, und wir fühlten uns wie Phantome der Straße, Djinns, die ungesehen in den Landstaub pinkeln konnten. Ich sollte nicht wissen, daß ihr Vater ihr das Auto geschenkt hatte. Zum Schulabschluß. Aber ich wußte es doch, weil es mir einer ihrer Brüder erzählt hatte, und ich wußte außerdem, daß sie mich eiskalt fallenlassen würde, sobald die Fahrt zu Ende war.
    »Weißt du, was interessant an dir ist? Du sagst, du willst auch den kleinsten Gedanken teilen. Aber das Interessante an dir ist«, sagte ich, »daß du alles, was wir gesagt und getan haben, jeden Gedanken, den wir geteilt haben, vergessen wirst, und zwar sobald wir.«
    »Nein.«
    »Sobald wir.«
    »Nein.«
    »Sobald wir uns verabschiedet haben. Weißt du nämlich, was du bist? Ein praktisches, dickköpfiges, mehr oder weniger berechnendes Wesen, das zehn Jahre im voraus plant und jede vorübergehende Minute als das erkennt, was sie ist.«
    »Und was ist sie?«
    »Etwas, das du bis zum letzten Tropfen auspreßt, damit du es am nächsten Morgen vergessen

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