Unterwelt
Lederstriemen waren, so entworfen, daß sie von den Schläfen abstanden.
Er hörte, wie Clyde aus der Dusche kam.
Als sie noch jünger waren und gemeinsam Urlaub machten oder auf Geschäftsreise gingen, sich eine Suite teilten oder angrenzende Zimmer nahmen und die Verbindungstür offen ließen, um, jeder von seinem Bett aus, bis tief in die Nacht miteinander zu reden, da gelang es Edgar manchmal, die Spiegel so zu stellen, daß er einen kurzen Blick erhaschen konnte – wenn er den freistehenden, antiken Spiegel in einem alten Gasthaus nahm, den Drehspiegel beispielsweise, und ihn einfach woandershin schob, oder wenn er die Tür des Badezimmerschränkchens ein Stück öffnete und so ließ, daß er beim Rasieren sehen konnte, wie der Spiegel das Licht vom Bett im Nebenzimmer einfing, oder wenn er einen Handspiegel aufrecht auf einem Tisch stehen ließ – einen kurzen Blick, ein flüchtiges Spähen, ein Gucklochlugen nach Junior, der damit beschäftigt war, sich anzuziehen oder auszuziehen oder zu baden, und das ganze Arrangement war so, daß der Augenblick absolut zufällig wirkte, falls die Zielperson bemerken sollte, daß sie beobachtet wurde, und zwar als Zufall, ja, als Unfall nicht nur in ihren Augen, sondern auch in Edgars eigener Wahrnehmung, wenn Juniors Anblick im normalen Ablauf der Dinge einfach so durch sein Gesichtsfeld schweben konnte, wenn sie in wichtigen FBI-Angelegenheiten unterwegs waren, der schlanke, männliche Körper seines Gefährten, oder in einem Golfhotel abstiegen oder den Rennpferden westwärts nach Del Mar folgten, als sie beide noch viel jünger waren.
Junior wurde inzwischen langsam kahl und kriegte eine Knollennase, und er ging gebückt. Aber eigentlich war Junior immer gebückt gegangen, darum bemüht, nicht größer zu wirken als der Chef.
Edgar war im Schlafzimmer, hinter geschlossener Tür. Er stand vor dem Spiegel, ein einundsiebzigjähriger Mann mit nichts am Leib als seiner ziermünzenbesetzten Rockermaske und seinen Pantoffeln mit Wollfutter, und lauschte den Stimmen auf der Straße.
9. JANUAR 1967
Wenn ihr Arbeitstag zu Ende war, zog Jan et Urbaniak ihre Laufschuhe an. Vier trostlose Häuserblocks lagen zwischen dem Krankenhauskomplex, wo sie ausgebildet wurde und Stationserfahrung sammelte, und dem Mietshaus, wo sie wohnte. Karge, unkrautüberwucherte Straßen, ungeräumter Schnee, der von den Busabgasen verrußt, Schnee, der von Hundepisse zerlöchert und vergoldet war, und meistens hingen ein paar lauernde Gestalten in grünem Drillich herum, die letzten eines versprengten Bataillons ausgelaugter Männer.
Wenn ihr Arbeitstag also zu Ende war, zog Janet ihre leichten, lässigen Slipper aus und holte ihre Laufschuhe aus dem Spind, ein Paar feste, gepolsterte Turnschuhe mit abfedernder Mittelsohle, die sich geschmeidig und sicher anfühlten. Dann ging sie zum Krankenhaustor, wo sie mit einer anderen Schwesternschülerin an der Ampel stand und wartete, daß es Grün wurde, und zwar auf der gesamten, praktisch verlassenen Strecke von vier endlosen Häuserblocks, einem herzlosen Boulevard, wie man ihn in den Teilen der Stadt antrifft, wo die Architektur vorsichtig und angespannt ist und man stets ein Gefühl von Sperrstunde hat.
Janet stand da und wartete in der tiefen, gespenstischen Abenddämmerung. Dann sprang die Ampel auf Grün, ihre Freundin sagte: »Los, los, los, los«, und Janet fing an zu laufen, nonstop, so hoffte sie, falls ihr die Ampeln gewogen waren, und in wenigen Sekunden hatte sie ihre Höchstgeschwindigkeit erreicht, sie versuchte, den vereisten Stellen auszuweichen, und ihre Freundin behielt sie den ganzen Weg über im Blick.
An manchen Abenden, an den meisten Abenden sind es eher die Männer, auf die du achten mußt. Deshalb läufst du ja auch. Sie sehen dich in deinen elastischen, blauweißen Schuhen ankommen und haben lauter Dinge zu sagen und Gesten zu machen oder auch nur Blicke zu werfen, manchmal auch gar nichts, dann bist du ein Geist, ein Schatten – eine Gruppe Männer, zusammengerottet an einem Maschendrahtzaun oder einem leeren Grundstück, und du weißt nie genau, ob du besser in einem defensiven Bogen ausweichen oder in gerader Linie weiterlaufen sollst, denn die erste Taktik könnte sie beleidigen, und die zweite könnte sie in Versuchung führen, sich näher bekanntzumachen oder sich dir und deiner Gleichgültigkeit in den Weg zu stellen, und an manchen Abenden ist es eher der Schnee.
Der Schnee oder der Regen oder der Müll oder
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