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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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Nachsinnens ging nur bis hierhin. Das war alles, was ich durchs Mahlwerk schicken konnte. Wir hatten gesagt, was wir sagen wollten, hatten alle Blicke ausgetauscht und der Toten und Vermißten gedacht, und nun wurde es Zeit für mich, wieder ein funktionierender Erwachsener zu werden.
    Jemand anders sagte etwas, und ich stand auf und ging ein Stück beiseite, spürte noch Klaras Hand, die über meinen Unterarm und meine Handfläche streifte. Diesmal fand ich etwas weiter hinten einen Platz, näher am Eingang. Das Publikum brauchte einen Moment, um sich zu versammeln und hinzusetzen.
    Die Interviewerin hockte sich hin und sprach.
    »Vielleicht können Sie uns erzählen, warum Sie diese Sache machen wollen.«
    »Das ist ein Work-in-Progress, vergessen Sie das nicht, es verändert sich täglich, minütlich. Ich will mal versuchen, eine Antwort einzukreisen, vielleicht schaffe ich es, vielleicht auch nicht.«
    Sie hielt die rechte Hand ans Gesicht, die Zigarette nach oben gereckt, auf Augenhöhe.
    »Früher habe ich viel Zeit in Maine an der Küste verbracht. Ich war mit dem Besitzer einer Segeljacht verheiratet, das war mein zweiter Mann, er handelte mit Risiko-Wertpapieren und stand kurz vor der Pleite, was er aber damals noch nicht wußte, und er hatte eine wunderhübsche Ketsch, und wir fuhren immer da hoch und kreuzten vor der Küste. Nachts saßen wir an Deck, der Himmel war herrlich klar, und manchmal sahen wir eine Art Halo vor den Sternenfeldern entlangziehen und überlegten immer, was das wohl war. Flugzeuge auf der Nordatlantikroute oder Ufos, wissen Sie, das war schon damals ein beliebtes Thema. Eine leuchtende Scheibe, die langsam dahinzog. Verschwommen und sehr weit oben. Ich dachte, das ist einfach zu hoch für eine Verkehrsmaschine. Aber ich wußte, daß Langstreckenbomber so ungefähr in 18000 Meter Höhe fliegen. Und ich sagte mir, dieses Licht ist die Reflexion eines Objekts ganz weit oben, und sie nimmt diese Kreisform an. Denn ich wollte gern daran glauben, daß wir genau das sahen. B-52er. Der Krieg hat mir immer schon einen gehörigen Schrecken eingejagt, aber diese Lichter, ich kann Ihnen sagen, diese Lichter sah ich mit gemischten Gefühlen. Diese ständig in Alarmbereitschaft befindlichen Flugzeuge, allzeit bereit, wissen Sie, immer an den sowjetischen Grenzen entlang, und ich weiß noch, wie ich da draußen saß, leicht schaukelnd, vor Anker in irgendeiner verlassenen Bucht, und eine Art Ehrfurcht verspürte, das träumerische Gefühl eines Kindes angesichts von Geheimnis und Gefahr und Schönheit. Ich glaube, das ist Macht. Ich glaube, wenn man eine Kraft in der Welt aufrechterhält, die in den Schlaf der Menschen eindringt, dann übt man eine bedeutsame Macht aus. Ich respektiere Macht nämlich. Doch dann ging diese Macht unter, den Bach runter, und heute, wo es die sowjetischen Grenzen nicht mal mehr in derselben Form gibt, begreifen wir allmählich, glaube ich, wir blicken zurück, wir erkennen uns mit größerer Klarheit, und sie desgleichen. Vor dreißig, vierzig Jahren bedeutete Macht noch etwas. Sie war stabil, sie war gesteuert, sie war greifbar. Sie stand für Größe, Gefahr, Schrecken, all das. Und sie hielt uns zusammen, die Sowjets und uns. Vielleicht hielt sie die ganze Welt zusammen. Man konnte die Dinge messen. Man konnte Hoffnung messen und Zerstörung. Nicht daß ich all das zurücksehne. Es ist vorbei, ein Glück. Aber es ist doch so, daß.«
    Hier schien sie den Faden zu verlieren. Sie machte eine Pause, merkte, daß die Zigarette weggekokelt war, die Interviewerin griff danach, und Klara reichte sie ihr, artig, Filter zuerst.
    »Vieles, was im Gleichgewicht der Macht und im Gleichgewicht der Abschreckung verankert war, scheint zerfallen, zerbröselt zu sein. Die Dinge haben keine Grenzen mehr. Geld hat keine Grenzen. Ich begreife Geld nicht mehr. Es ist zerfallen. Gewalt ist zerfallen, Gewalt ist heute viel wahrscheinlicher, sie ist entwurzelt, außer Kontrolle, ohne jedes Maß, ohne jedes Werteniveau.«
    Sie machte wieder eine Pause und dachte nach.
    »Ich will die Welt nicht abrüsten«, sagte sie, »oder doch, ich will es, aber es soll vorsichtig und realistisch geschehen, in vollem Bewußtsein davon, was wir aufgeben. Wir haben die Jacht aufgegeben. Das war das erste. Und jetzt habe ich diese Flugzeuge hier, die vom Himmel herunter sind, vom Cockpit bis zur Heckbordkanone bin ich durchgegangen, durchgeschlüpft, durchgekrochen, ich habe sie in allen möglichen Arten

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