Unterwelt
oder die Mannschaft, die das Flugzeug flog. Vielleicht war sie Kellnerin in einer Fliegerbar. Oder das Mädchen von irgendwem, daheim in der Kleinstadt. Oder die erste große Liebe. Jedenfalls haben wir es hier mit einem individuellen Leben zu tun. Und ich möchte, daß dieses Leben ein Teil unseres Projekts wird. Dieses Glück, dieses Zeichen gegen den Tod. Wer immer sie ist oder war, eine verschwitzte Kellnerin, ja, die eine Ketchup-Flasche quer durch den Raum schmeißt, und Scheiß auf die Bombe, ich möchte, daß unsere Ziele überschaubar und menschlich bleiben, trotz der ungeheuren Arbeit, die wir geleistet und noch vor uns haben, und jetzt sitze ich hier, habe einen Fuß hochgelegt und rede ohne Ende über meine Arbeit, dabei ist mir Matisse vollkommen bewußt, der gesagt hat, Maler sollten sich als erstes die Zunge abschneiden.«
Ich konnte sie mir im französischen Fernsehen vorstellen, punktweise zerlegt, übertragen und zurückverwandelt. Ich hörte ihre Stimme, als Hintergrund einer monotonen Übersetzung. Leute, die in allen Teilen des Landes zuschauten, die Köpfe im Dunkel zusammensteckten. Ich sah ihr bildschirmflaches Gesicht vor mir, wie es an den Rändern flirrte, ihre Augen wie erkaltete Monde, eine halbe Million Klaras, die in der Nacht schwebten.
Sie sagte: »Vor nicht allzu langer Zeit habe ich ein altes Foto gesehen, ein Bild aus der Mitte der sechziger Jahre, am Bildrand ist eine Frau zu erkennen. Das Foto wimmelt von Menschen, sie stehen an einem Eingang, wohl das Entree zu einem großen Ballsaal, und sie alle tragen schwarz und weiß, Männer wie Frauen, dazu Masken, und ich schaute mir das Bild an und begriff, das war die berühmte Party, das Großereignis jener Jahre, Truman Capotes Black & White-Ball im Plaza Hotel in New York während der finsteren Zeiten von Vietnam, und ich stand sozusagen völlig neben mir, denn ich brauchte ungefähr eine halbe Minute, bis mir klar wurde, daß die Frau am Bildrand ich selber war. Ehrlich. Und ich stehe neben einem Mann, der entweder Truman Capote oder J. Edgar Hoover ist, einer von beiden, denn ihre Köpfe hatten dieselbe Form, und wegen der Maske und des Blickwinkels und der Schatten läßt sich schwer sagen, welcher welcher ist, und ich trage ein langes schwarzes hautenges Kleid, ich fasse es nicht, daß ich es jemals anhatte, aber da stehe ich, das bin ich, mit einer kleinen weißen Katzenmaske. Und ich dachte, was ist nur an dem Bild, daß ich mich kaum an mich erinnern kann? Ich dachte, ich weiß nicht, wer diese Person ist. Warum ist sie eigentlich da? Woran denkt sie? Welche Unterwäsche trägt sie unter diesem albernen Kleid, und ich schwöre Ihnen, ich weiß es nicht. Umgeben von Berühmten und Mächtigen, Männern aus dem Regierungsapparat, die den Krieg organisierten, und ich will es übermalen, will das Foto orange und blau und weinrot malen, die Fräcke und Abendkleider und den großen Ballsaal des Plaza Hotels bemalen, und wer weiß, vielleicht ist alles, was ich tue, ein immerwährendes Work-in-Progress. Und vergessen wir die Lust nicht. Die Sinne, die Lüste, die Körpersäfte. Und zwar stratosphärenblau, jawohl. Und gelb und grün und geranienrot. Maine-Geranien, die in kühler, feuchter Luft gedeihen. Und fuchsienrot. Orange und kobaltblau und chartreusegrün.«
Und aus der kleinen Gruppe rief jemand: »Lieber rot als tot.«
Und wir lachten alle. Die Bemerkung hatte einen Nachklang, der in unseren Stimmen weiterzuhallen schien, von den gegenüberliegenden Wänden dieses gemeinsamen Raums zurückprallte. Wir standen da und lauschten unserem eigenen Lachen. Und waren alle einer Meinung, daß damit der Abend vorbei war.
Ich ging zu meinem Auto, als ich das New Yorker Taxi erblickte. Jemand stieg ein, und als die Scheinwerfer eingeschaltet wurden, sah ich, es war die junge Frau, die vorher gefahren war.
»Hey, danke«, sagte ich. »Da draußen.«
»Sie sind der Lexus.«
»Der verloren herumirrte. Ein Glück, daß Sie vorbeigekommen sind.«
»Wir haben gesagt, der denkt bestimmt, jetzt kommt der Texas Highway Killer und hat sein nächstes Opfer schon im Visier.«
»Ich wußte, daß Sie nicht der Texas Highway Killer sind, schließlich sind wir nicht in Texas.«
»Außerdem glaub ich kaum, daß der ein gelbes Taxi fährt.«
»Das ist der andere Grund.«
»Zum Mitmachen hier?« fragte sie.
»Schön wär's. Aber ich werde im Büroturm in unserer großen Hauptstadt erwartet.«
»Könnte Ihre letzte Chance sein,
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