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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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sagte ich.
    »Ich weiß, was es bedeutet. Du empfindest Loyalität. Die Vergangenheit bringt unseren Patriotismus zum Vorschein, weißt du? Wir möchten gern Treue empfinden, und zwar ungeteilte Treue, gegenüber allen Leuten und Dingen.«
    »Und sie wird immer stärker.«
    »Manchmal denke ich, alles, was ich seit damals getan habe, eigentlich alles um mich herum, ich weiß nicht, ob es dir auch so geht, aber alles ist irgendwie – tja – fingiert.«
    Eine locker dahingesagte Bemerkung, die sie erst zu interessieren begann, als sie beim letzten Wort angekommen war.
    »Ein weiter Weg, Nick. Wir sind weit weg von zu Hause.«
    »Die Bronx.«
    Wir lachten.
    »Ja. Dieser Ort, dieses Wort. Schroff, grob – wie könnte man noch sagen?«
    »Niederschmetternd«, sagte ich.
    »Ja. Als hätte man drei Wörter zusammengeschmettert.«
    »Als würde man durch eingeschlagene Zähne sprechen.«
    Wir lachten wieder, und es ging mir besser. Es war wundervoll, mit ihr zu lachen . J a, sie sollte mich sehen. Sie sollte wissen, daß ich da raus war, ganz gleich, welche verrückten Fehler ich gemacht hatte – ich war ganz gut da rausgekommen.
    »So stark und wirklich«, sagte sie. »Und alles seither – aber vielleicht kommt das nur vom Älterwerden. Ich lese keine philosophischen Bücher.«
    »Ich lese alles«, sagte ich zu ihr.
    Sie schaute mich mit neuer Überraschung an.
    »Vielleicht sollte ich mir das für die Franzosen aufheben«, sagte sie. »Aber hat das Leben nicht irgendwann eine unwirkliche Wendung genommen?«
    »Nun ja, du bist berühmt, Klara.«
    »Nein. Es ist nicht unwirklich, weil ich berühmt bin.« Verärgert über mich. »Es ist einfach nur unwirklich.«
    Sie holte eine Schachtel Nat Shermans aus ihrem Blazer und steckte sich eine an.
    »Ich bin nicht schwanger, deshalb darf ich.«
    Jemand anders kam und ging, eine junge Frau mit einer Programmänderung, und Klaras Gesicht wurde distanziert und verschlossen, aber keineswegs wegen dieser Nachricht. Irgend etwas anderes irritierte sie, irgend etwas rührte sich und sickerte ein, und sie hielt den Kopf schräg, wie um zuzuhören.
    »Komisch, daß du jetzt auftauchst. Gott, wie komisch und irgendwie gräßlich. Und bis zu dieser Sekunde ist mir der Zusammenhang gar nicht aufgefallen. Was um Himmels willen ist mit mir los ? Habe ich vergessen, daß er gestorben ist? Albert ist vor zwei Wochen gestorben. Vor drei Wochen. Teresa hat mich angerufen, unsere Tochter.«
    »Das tut mir leid.«
    »Wir hatten keinen Kontakt mehr, er und ich. Vor drei Wochen. An den Folgen einer Herzinsuffizienz. Eine von den Todesursachen, bei denen man so ungefähr weiß, was es bedeutet, auch wenn man es gar nicht weiß.«
    »Wo hat er gelebt? Noch dort?«
    »Ja, noch dort«, sagte sie. »Wo wäre Albert wohl sonst gestorben?«
    Albert war Klaras Mann, damals, als ich mit ihnen beiden zu tun hatte. Er war Physiklehrer an meiner High School. Mr Bronzini. Jahre nachdem ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte, entdeckte ich, daß ich oft und unerwartet an ihn dachte. Das kennt man ja, wie bestimmte Orte der Erinnerung mit der Zeit Bedeutung erlangen. In meinen frühmorgendlichen Träumen, wenn ich nach einem verschlafenen Pinkeln wieder ins Bett gehe und rasch in das schmale Ende der Nacht hineingleite, gibt es eine Handvoll Straßen, in die ich immer wieder zurückkehre, den schlafwagenschummrigen Schein langer Wohnungsflure, und bestimmte Gestalten tauchen wieder auf, Grenzgängergeister. Darunter Albert und Klara. Er war der Ehemann, sie die Ehefrau, ein Detail, über das ich damals kaum nachgedacht hatte.
    Zwei Leute beugten sich über Klara und murmelten ihr gleichzeitig etwas zu, und dann fragte einer von der Crew, ob sie bereit zum Weitermachen sei.
    Sie sagte zu mir: »Dein Bruder.«
    »Lebt in Boston.«
    »Siehst du ihn?«
    »Nein. Selten.«
    »Was ist mit seinem Schach?«
    »Ich sehe niemanden. Er hat es schon lange aufgegeben.«
    »Ach, wie schade.«
    »Es konnten doch nicht zwei Genies aus demselben kleinen Viertel kommen.«
    »Ach Quatsch«, sagte sie.
    Ich legte ihr eine Hand auf den Arm und fühlte, daß etwas nachgab. Sie schaute mich wieder an, mit hervortretenden, vom Sehen blutunterlaufenen Augen. Ich fand es zutiefst angenehm, mit meiner Hand auf Klaras Arm dazusitzen und an den gekräuselten Mund der jüngeren Frau zu denken, jene Art erotischen Makels, in dessen Asymmetrie man sich am liebsten verlieren würde – Mund und Kiefer nicht ganz auf Linie. Doch das Vergnügen des

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