Unterwelt
stellte eine Reihe von Fragen nach jungen Konzeptkünstlern, die mit biologischem und atomarem Müll arbeiteten, und bat dann um eine kurze Pause. Die Zuschauer applaudierten verhalten und verliefen sich in schwatzenden Grüppchen oder gingen nach draußen, um den Nachthimmel anzuschauen, der sich immer dichter aufbaute.
Ich griff mir den Burschen mit dem Welcome auf der Brust.
»Kommen Sie jetzt an sie ran? Sagen Sie ihr, Nick Shay ist da. Aus New York, sagen Sie ihr das. Fragen Sie, ob sie eine Minute Zeit hat«, sagte ich. »Wir waren früher in New York praktisch Nachbarn.« Er blinzelte mich an.
Ich wiederholte meinen Namen und beobachtete, wie er auf den Regiestuhl zuging. Er mußte warten, bis sie frei war, dann sprach er mit ihr und zeigte in meine Richtung.
Ich beobachtete ihr Gesicht, wartete, daß der Name durchsickerte, Licht ihre Augen erhellte. Sie hielt inne, dann schaute sie sich nach mir um. Ihr Gesicht zeigte – was? Eine gewisse Unruhe, eine Sorge um mich, ernst und erinnerungsvoll. Bist du wirklich hier? Bist du wohlauf? Bist du am Leben?
Ich ging hinüber, griff mir einen Klappstuhl und stellte ihn neben sie, wartete, daß der Junge endlich fortging.
»Du bist also Nick.«
»Ja.«
»Wenn das keine Überraschung ist.«
»Du erinnerst dich.«
»O ja«, sagte sie, und da war das Ausblendlächeln, der Blick, der sagt, wie ist das denn passiert.
»Ich war in Houston.«
»Du führst ein geregeltes Leben.«
»Jeden Tag rasieren.«
»Steuern zahlen – gut.«
»Ich hatte in Houston zu tun. Ich hatte zufällig eine Zeitschrift dabei, in der stand ein Artikel über dein Projekt. Also dachte ich mir, warum nicht.«
»Nick trainiert tüchtig, glaube ich.«
»Na ja. Ich trinke Sojamilch und bin Fünfzehnhundertmeterläufer.«
Ich wartete ihr Lächeln ab. Dann sagte ich: »Aber in dem Artikel stand nicht genau, wo das Gelände lag. Deshalb bin ich nach El Paso geflogen, habe mir einen Wagen gemietet und gedacht, fährst du eben mit dem Auto nach Hause, nach Phoenix, und schaust auf dem Weg mal vorbei.«
»Und du hast uns gefunden.«
»War nicht leicht.«
Sie schaute mich an, unverhohlen abschätzend. Ich fragte mich, was sie sah. Ich hatte das Gefühl, ich müßte etwas Erklärendes über die dazwischenliegenden Jahre sagen. Verspürte halb diese Angst, die du kriegst, wenn dich einer zum ersten Mal nach langer Zeit mustert und dich denken läßt, nicht gerade berühmt, wie verändert und verlebt du inzwischen bist. Ohne es selber gemerkt zu haben, versteht sich. So machtlos gegenüber der eigenen Nachsicht, daß dir die Wahrheit verborgen geblieben ist.
»Geht's dir gut? Du siehst gut aus«, sagte sie.
Sie sagte, ich sähe gut aus, aber sie starrte so eigenartig, ja, und es schwang so etwas in ihrer Stimme mit, das mich argwöhnisch machte. Ständig unterbrach jemand, um ihr etwas mitzuteilen, Botschaften zu überbringen. Einer hatte etwas Organisatorisches mit ihr zu besprechen, und sie stellte uns vor.
»Ein alter Freund aus der geliebten Vergangenheit«, sagte sie. »Na ja, geliebt, vielleicht in der Erinnerung. Damals eher stürmisch.«
Dann wandte sie sich wieder mir zu. »Verheiratet?«
»Ja. Zwei Kinder. Uni-Alter. Obwohl sie nicht auf die Uni gehen.«
»Ich hab spontan geheiratet, nach einem kuschligen Abend mit gutem Wein. Allerdings nicht in letzter Zeit. In letzter Zeit weiß ich nicht mehr, wo mir der Kopf steht vor Arbeit. Ich habe lange gebraucht, um zu erkennen, daß ich bei Affären vorsichtig und logisch vorging, sozusagen richtig sorgfältig drauf achtete, mit wem und wo und wann, und vollkommen leichtsinnig, sobald es ums Heiraten ging.«
Ich wollte sagen, du warst aber nicht immer so vorsichtig bei Affären. Aber es war eigentlich gar keine Affäre, oder? Nur ein Vorfall, ein Zweiakter, nur ein paar Stunden, meßbar in Stunden und Minuten und dann zu Ende. Natürlich sagte ich nichts. Ich wußte nicht, wie ich das Thema ansprechen sollte. Bei unserem Altersunterschied konnten wir kein langes Gesicht darüber ziehen, daß man alt wird und taub und unbeweglich, und mir sank ein wenig der Mut, ich dachte schon, wir hätten die Begegnung bereits über die Grenzen des Erträglichen ausgedehnt und was für einen Fehler ich gemacht hätte, einfach herzukommen, denn das Thema war unaussprechlich – zu geheim, auch noch, selbst zwischen den Hütern des Geheimnisses, nach vierzig Jahren.
»Ich dachte, ich wäre uns diesen Besuch schuldig. Was immer das bedeutet«,
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