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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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nachzudenken, die wir auf Tiergestalten und Haushaltsgeräte herunterdimmen.
    Ich saß in meinem Motelzimmer vor dem Fernseher.
    Ich lebte verantwortungsvoll in der Wirklichkeit. Ich kaufte Klara diese Sache nicht ab, das Leben sei Fiktion, oder was immer sie gemeint hatte, als sie sagte, die Dinge seien unwirklich geworden. Die Geschichte war keine Frage von fehlenden Minuten auf dem Band. Ich stand nicht hilflos davor. Ich hielt mich sorgsam an die Strukturen zusammengetragenen Wissens, bezog Zuversicht aus dem soliden und nützlichen Stoff unserer Erfahrung. Selbst wenn man daran glaubt, daß die Geschichte ein von Menschenblut betriebenes Räderwerk ist – man braucht nur Mussolinis Reden nachzulesen –, hat man das Ganze zumindest gemeinsam erlebt. Ein einziger Erzählschwung statt zehntausend Flusen Fehlinformation.
    Ein Mann saß in einem Panton-Stuhl in einem Wohnzimmerbühnenbild, vor ihm ein Couch tisch und an der Wand hinter ihm aufgereiht Bücher oder Buchumschläge.
    Ich war überzeugt, daß wir herausfinden konnten, was mit uns geschah. Wir wurden nicht von unserem eigenen Leben ausgeschlossen. Das ist nicht mein Kopf auf dem Körper eines anderen, auf dem Foto, das als Beweisstück vorgelegt wird. Ich glaubte nicht daran, daß Staaten im großen Maßstab Theater spielten. Ich lebte in der Wirklichkeit. Ich ließ nur lokale Geister gelten, die nebligen Spuren von Leuten, die ich kannte, und dem Abdruck meines eigenen trüben Schattens, New Yorker Geister in jedem Falle, die alte laute Bronx, Hand vor dem Mund, durch zerschlagene Zähne gesprochen – das Sticheln, das gefurzte Schnauben der Verachtung.
    Der Mann in dem Sessel sagte: »Down's Syndrom. Die gebührenfreie Nummer lautet: Eins, achthundert, fünf eins fünf, zwo sieben sechs acht. Korsakoff-Psychose. Eins, achthundert, drei eins drei, sieben fünf acht eins. Alzheimer-Krankheit. Rufen Sie gebührenfrei an. Eins, achthundert, acht eins drei, drei fünf zwo sieben.« Er sagte: »Kaposi-Sarkom. Rund um die Uhr. Eins, achthundert, sechs sieben zwo, neun eins sechs eins.«
    Ich fuhr bei Sonnenaufgang zum Gelände raus. Ich parkte in der Nähe einer Gerätehalle und stieg eine kleine Erhebung hinauf, von der aus ich einen guten Blick auf die Flugzeuge haben würde. Ich hörte sie, bevor ich sie sah, ein unbehagliches Knarren, Windstöße, die die beweglichen Teile zum Drehen brachten. Dann erreichte ich die Spitze des Sandsteinvorsprungs, und da waren sie, in breiter Formation auf dem ausgebleichten Grund der Welt.
    Ich hatte nicht gewußt, daß es so viele Flugzeuge waren. Ihre Anzahl verblüffte mich. Sie waren in acht taumeligen Reihen aufgestellt, ein paar scherten an den Rändern aus. Ich zählte sie bis zur letzten Maschine, während die Sonne höher stieg. Da standen zweihundertdreißig Flugzeuge, mit ausgebreiteten Flügeln und Flossen wie Tiefseekreaturen, einige zum Teil bemalt, andere beinahe fertig, viele noch gar nicht mit den Farbspritzen in Berührung gekommen, und die waren kriegsschiffgrau oder in verblaßten Tarnfarben gestrichen oder vom Sandstrahl bis zum schieren Metall abgeschliffen.
    Die angemalten Flugzeuge wurden immer leuchtender und lebendiger. Farbstriche, Streifen und Kleckse, luftige Schichten, die Kraft des gesättigten Lichtes – das Ganze seltsam persönlich, die Hand eines Malers, geführt ebenso von Impuls und nachträglicher Überlegung wie von einem epischen Entwurf. Ich hatte nicht erwartet, mit so viel Vergnügen und Erregung zu reagieren. Die Luft war satt von Farbe, Kupfer und Ocker strahlten heiß von der Metallhaut der Flugzeuge ab, vermengten sich mit der umgebenden Wüste. Doch diese Farben zogen nicht einfach Kraft aus dem Himmel oder aus den Landschaftsformationen ringsum. Sie drückten und zerrten. Sie standen untereinander im Konflikt, als wären sie Emotionen, Hautpigmente und Industriegrautöne und ein knalliges Rot, das wiederholt in dem Werk auftauchte – das Rot von etwas Ausgeschiedenem, einem geplatzten Sack, blut-eitrige Dickflüssigkeit und zerlaufenes Fahlgelb. Und die anderen Maschinen, entfärbt, immer noch mit gespenstischen Stoffplanen über den Fensterscheiben und Motoren, entseelt, ihre Grundierung erwartend.
    Manchmal sehe ich etwas so Bewegendes, daß ich weiß, ich darf nicht verweilen. Sieh es an und geh. Wenn du zu lange bleibst, erschöpfst du den wortlosen Schock. Liebe es, vertrau ihm und geh.
    Sie wollte, daß wir eine einzige Masse sahen, nicht eine Kollektion von

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