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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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vergessen hat, und wir brachten sie in einem kühlen Zimmer unter, wo sie vor dem Fernseher saß.
    Ich sollte Marian von den alten Straßen erzählen, den Straßenspielen, den Straßenkämpfen, dem Sex in den Seitenstraßen, den kleinen Taschendiebstählen. Ich erwähnte das Auto, gar nicht so klein, aber sie wollte mehr hören. Sie wollte hören, wie ab und zu ein abtrünniges Mitglied irgendeiner organisierten Gruppe exekutiert wurde, die sie in ihrer Phantasie in dieser Gegend am Werke sah, wie die Kugel in den Hinterkopf eindrang und sich ihren Weg zum Gehirn bahnte. Sie hoffte darauf, daß ihr die Ankunft meiner Mutter die reizvollen Fakten bescheren würde, die sie aus dem lakonischen Nick nicht herausholen konnte. Aber meine Mutter redete nur von den faulen Noten, die ich auf der Schule bekommen hatte, und wie ich mit acht von einem Baum gefallen war.
    Und ich mochte es, daß Geschichte hier nicht aus dem Ruder lief. Hier wurde sichtbare Geschichte unterteilt. Eingesperrt, unterstützt und bronziert, behutsam in den Schrein von Museen und Hochhausvorplätzen und Gedenkparks gesetzt. Alles weitere war Geographie, Raum und Licht und Schatten und unsägliche, lastende Hitze.
    Ich trank Sojamilch und lief meine fünfzehnhundert Meter. Ich hatte so ein Ding, das ich an das Gürtelband meiner Laufhosen klemmte, ein Gerät, das nur hundert Gramm wog und auf einem Display die zurückgelegte Entfernung, die verbrauchten Kalorien und die Schrittlänge anzeigte. Meine Wohnungsschlüssel trug ich in einem Fußtäschchen mit Klettverschluß. Ich lief nicht gerne mit klingelnden Schlüsseln in der Hosentasche. Das Fußtäschchen erfüllte einen Bedarf. Es richtete sich direkt an ein persönliches Anliegen. Es gab mir das Gefühl, als existierten in der Welt der Produktentwicklung und Vermarktung und Geschenkkatalogisierung Menschen, die das Wesen meiner kleinen, bohrenden Bedürfnisse verstanden.
    Sie redeten auch über meinen Vater, das andere Thema, mit dem sie sich in der tiefen Dumpfheit nach dem Abendessen beschäftigten. Typisch, daß Marian sich daran festbiß, Lücken zu füllen, Details herauszufinden versuchte. Ich saß im Wohnzimmer und hörte zeitweise zu, während die Spülmaschine mit ihrem drängenden, sexuellen Pulsieren lief. Ich hörte halb zu, das Gesicht in eine Zeitschrift versenkt, hörte gedämpfte Stimmen aus dem hinteren Zimmer, ab und zu ein Wortknäuel, das Spülmaschine und Fernseher übertönte. Der Fernseher war immer an, wenn meine Mutter in ihrem Zimmer war.
    Reisen spielte eine wichtige Rolle in meinem Beruf. Die spiegelnden Oberflächen des Bronzeturms zu verlassen, die ganz natürliche Art der Leute, sich einige wenige zum Vorbild zu nehmen, meistens zu imitieren, die Bewegungen oder Ausdrucksweise eines Vorgesetzten nachzumachen. Man stelle sich einen jungen Mann oder eine junge Frau vor, eine junge Frau, die ein paar Worte mit dem Knurren eines Kinogangsters sagt. Das machte ich oft, um der komischen Pointe willen, damit Sachen pünktlich erledigt wurden. Ich gab im Gossenjargon raunende Drohungen aus dem Mundwinkel von mir, und dann, ein, zwei Tage später, kam ich an einem Büro vorbei und hörte, wie eine meiner Assistentinnen mit ebendieser Stimme sprach.
    Wir stellten ihr einen Fernseher hin und einen Luftbefeuchter und die Frisierkommode, die Marian in ihrer Jugend gehört hatte. Wir räumten die Kommode leer und putzten sie, erneuerten die Silberschicht auf dem Spiegel und hängten reichlich Bügel in den Schrank.
    Oder ich hob mitten in einer Besprechung den Telefonhörer ab und tat so, als arrangierte ich einen gepfefferten Denkzettel für einen Kollegen, ein Manöver, das bei den anderen im Zimmer gehässiges Gelächter provozierte. Ich versuchte, selbst ein bestimmtes Lachen zu vermeiden, nämlich das von Arthur Blessing, unserem Geschäftsführer, mit artikulierten Ha-has, während ein langsames Kopfnicken den Lachrhythmus markierte. Wegzufahren, wegzufliegen befreite mich von den Signalen, die von jeder gewienerten, blankpolierten Oberfläche zurückgeworfen wurden.
    Er ging aus dem Haus, um Zigaretten zu holen, und kam nicht zurück. So was hörte man früher über verschwundene Männer. Das endgültige Familiendrama. Alle Familiendramen erreichen ihren Höhepunkt in der endgültigen Leidenschaft des böswilligen Verlassens. Mein Vater rauchte Lucky Strikes. Auf der Packung ist ein Logo, das man durchaus als Zielscheibe beschreiben könnte, vielleicht aber auch nicht – es

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