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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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lebensnäher als alles ringsum. Die Dinge deiner Umgebung sehen einstudiert und vielschichtig und kosmetisch aus. Das Band ist überreal, oder vielleicht eher unterreal, so würdest du es eher ausdrücken. Es ist das, was am abgeschabten Grund all der Schichten liegt, die du hinzugefügt hast. Und das ist noch ein Motiv, warum du weiter hinschaust. Das Band wirkt brennend real.
    Es zeigt ihn bei seinem verkürzten Winken, mit steifer Handfläche, wie die Signalschilder an Eisenbahnweichen.
    Du weißt, wie sich Familien Spiele ausdenken. Das hier ist so ein Spiel, nichts weiter, und die Kleine erfindet die Regeln aus dem Stegreif. Ihr gefällt die Vorstellung, einen Mann im Auto auf Video aufzunehmen. Wahrscheinlich hat sie das noch nie gemacht, und sie sieht keinen Grund, die Größe des Bildausschnitts zu verändern oder früher aufzuhören oder zu einem anderen Auto zu schwenken. Das ist ihr Spiel, und sie spielt und lernt zur gleichen Zeit. Sie kommt sich ziemlich schlau und einfallsreich vor, vielleicht auch ein bißchen zudringlich, mit der kleinen Prise Frechheit, die jedes Spiel würzt.
    Und du schaust weiter hin. Du tust es, weil es im Wesen des Filmens liegt, einen kanalisierten Weg durch die Zeit zu schlagen, den Dingen eine Gestalt und eine Bestimmung zu geben.
    Hätte sie freilich zu einem anderen Auto geschwenkt, zum richtigen Auto zum exakten Zeitpunkt, dann hätte sie den Schützen beim Schuß erwischt.
    Die Zufälligkeit des Zusammentreffens. Das Opfer, der Killer und das Kind mit einer Kamera. Willkürliche Energien, die auf einen gemeinsamen Punkt zusteuern. Darin liegt etwas, das dich direkt anspricht, eine schreckliche Aussage über Kräfte, die du nicht kontrollieren kannst, Schnittlinien, die Geschichte und Logik und jede vernünftige Ebene menschlicher Erwartung zerteilen.
    Sie ist einfach hineinspaziert. Das Mädchen hat sich verirrt und ist hellsichtig in den Horror hineinspaziert. Dies ist eine Kindergeschichte darüber, wenn man zu weit von zu Hause weggeht. Aber es ist nicht das Familienauto, das der kindlichen Neugier als Instrument dient, ihrem Hang zur Entdeckung. Erst die Kamera bringt das Mädchen auf die Bildfläche.
    Du weißt, wie das ist mit Ferien und Familienfeiern und wenn einer mit einem Camcorder aufkreuzt und die Verwandten stehen herum und reagieren kaum, weil sie bis zum Abstumpfen daran gewöhnt sind, daß sie gefilmt und gestellt und bei Kaffee und Kuchen auf Video gezeigt werden.
    Kurz danach wird er getroffen. Wer das Band oft gesehen hat, weiß durch das Winken genau, wann er getroffen wird. Darauf wartest du, naturgemäß. Du sagst zu deiner Frau, falls du zu Hause bist und sie in der Nähe ist, Jetzt kommt gleich, wo's ihn erwischt. Du sagst, Janet, beeil dich, da ist die Stelle, wo es passiert.
    Jetzt kommt gleich, wo's ihn erwischt. Du siehst, wie es ihn durchfährt, eine Art Elektroschock – dann bäumt er sich auf und fällt gegen die Tür, oder vielleicht lehnt er sich auch dagegen oder sackt daran zusammen, das ist der richtige Ausdruck. Es ist zugleich grauenhaft und unspektakulär. Das Auto bleibt auf der langsamen Spur. Es nähert sich kurz, dann fällt es zurück.
    Normalerweise rufst du deine Frau nicht zum Fernseher. Sie hat ihre Sendungen, du hast deine. Aber hier besteht eine gewisse Dringlichkeit. Sie soll mitbekommen, wie es aussieht. Das Band läuft schon ewig, und jetzt passiert die Sache gleich, endlich, und sie soll dabei sein, wenn er erschossen wird.
    Und da kommt es schon. Er wird erschossen, in den Kopf geschossen, und die Kamera reagiert, die Kleine reagiert – es gibt eine ruckartige Bewegung, aber sie filmt weiter, es kommt zu einem Reflex des Mitgefühls, einem Nervenreflex, ihr Herz schlägt schneller, aber sie hält die Kamera weiter auf den Mann gerichtet, während er an der Tür zusammensackt, und selbst, als du ihn sterben siehst, denkst du an das Mädchen. Auf irgendeiner Ebene muß das Mädchen ebenfalls da sein, sieht es dasselbe wie du, unvorbereitet – das Mädchen sieht dies urplötzlich, und du kannst dich nur wundern, daß es die Kamera weiterlaufen läßt.
    Es zeigt etwas Grauenhaftes, ohne Beiwerk. Deine Frau soll das sehen, weil es diesmal wirklich ist, keine erfundene Kinogewalt – die Wirklichkeit unter den Schichten kosmetischer Wahrnehmung. Beeil dich, Janet, jetzt kommt's gleich. Er stirbt so schnell. Es gibt keinerlei Beiwerk. Es ist vollkommen nackt. Du würdest ihr am liebsten sagen, es ist wirklicher als die

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