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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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und ein bißchen freie Zeit zur Verfügung. Er macht behutsam hinter sich zu, geht die Treppen hinunter und vor die Haustür, und er fragt sich, wie es kommt, daß sie nicht seine alte Jacke auftragen – sondern er ihre.
    Er schaut nach links und nach rechts, weil er immer nach links und nach rechts schaut. Dann geht er die Stufen hinunter und auf die Straße.

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1
    E s zeigt einen Mann, der ein Auto fährt. Es ist die schlichteste Form von Familienvideo. Du siehst einen Mann am Steuer eines mittelgroßen Dodge.
    Es ist bloß ein kleines Mädchen, das seine Kamera durchs Rückfenster des Familienwagens auf die Windschutzscheibe des folgenden Autos hält.
    Du kennst das ja, Familien und ihre Videokameras. Du weißt, wie sich Kinder begeistern, weil ihnen die Kamera zeigt, daß jeder Gegenstand potentiell aufgeladen ist, eine Million Dinge, die sie niemals mit bloßem Auge sehen würden. Sie erforschen die Bedeutung unbelebter Objekte und stummer Haustiere, und sie stochern in der familiären Intimsphäre herum. Sie lernen, die Dinge zweimal zu sehen.
    Hier nun wird vor allem die Intimsphäre der Kleinen geschützt. Sie ist zwölf Jahre alt, und ihr Name wird nicht freigegeben, obwohl sie weder Opfer noch Täter des Verbrechens ist, sondern nur das Instrument, das es festgehalten hat.
    Es zeigt einen Mann im Sporthemd am Steuer seines Wagens. Sonst ist nichts zu sehen. Das Auto nähert sich kurz, dann fällt es zurück.
    Du weißt, wie Kinder mit Kameras lernen, die entlarvenden Momente zu benutzen, die die ganze Familie charakterisieren. Sie brechen jedwedes Vertrauen, spionieren den ungeschützten Raum aus, erwischen Mama, wie sie gerade in ihrem unförmigen Morgenmantel und mit Handtuchturban aus dem Badezimmer kommt und blutleer und gerupft aussieht. Das ist kein Scherz. Die halten auch drauf, wenn du auf dem Topf sitzt – bei der nächsten günstigen Gelegenheit.
    Das Band hat genau die verwackelte Ereignislosigkeit, die das typische Familienprodukt kennzeichnet. Freilich ist der Mann in diesem Fall kein Familienmitglied, sondern ein Fremder in einem Auto, eine beliebige Figur, jemand, der zufällig auf der langsamen Spur fuhr.
    Es zeigt einen Mann in den Vierzigern, der ein helles Hemd mit offenem Kragen trägt, das Bild ist von Spiegelungen und Sonnenglitzern durchzogen und oft verwackelt.
    Es ist nicht der x-te Video-Mord. Es ist ein Mord, von einem Mädchen aufgenommen, das glaubte, etwas ganz Simples, vielleicht auch ein bißchen Schlaues zu tun, indem es einen Mann im Auto filmte.
    Er sieht das Mädchen und winkt kurz, ohne die Hand dabei vom Steuer zu nehmen – eine zurückhaltende Reaktion, die ihn dir sympathisch macht.
    Unerbittlich läuft das Band weiter. Es hat eine zweckfreie Entschlossenheit, eine Beharrlichkeit, die unabhängig vom Stoff existiert. Du schaust direkt in den Geist des Heimvideos hinein. Es ist unschuldig, es ist zweckfrei, es ist entschlossen, es ist real.
    Über seinen Kopf zieht sich in der Mitte eine kahle Schneise, ein netter Kerl in den Vierzigern, dessen ganzes Leben sich der Handkamera offen darzubieten scheint.
    Doch es gibt auch ein Element der Spannung. Du schaust weiter hin, nicht weil du weißt, daß etwas passieren wird – denn natürlich weißt du genau, daß etwas passieren wird, und aus dem Grund schaust du auch hin, aber wenn du zufällig auf diese Aufzeichnung gestoßen wärst, ohne den Ausgang zu kennen, würdest du auch dranbleiben. Hier ist eine krude Macht am Werk. Du schaust weiter hin, weil dich die Verbindung von mehreren Dingen fesselt – das Gefühl von etwas Willkürlichem, Amateurhaftem, Zufälligem, Bevorstehendem. Du hältst das Band nicht für langweilig oder interessant. Es ist krude, es ist direkt, es ist gnadenlos. Es ist der verwackelte Teil deines Geistes, der Film, der sich unterhalb all der Gedanken, von denen du weißt, daß du sie denkst, durch dein Hotelzimmerhirn zieht.
    Die Welt lauert in der Kamera, als fertiger Bildausschnitt, in Erwartung der Jungen oder Mädchen, die daherkommen und den Apparat in die Hand nehmen werden, mit ihm umzugehen lernen und den alten Opa beim Frühstück filmen, ein Schlaganfallwrack mit klaffenden Nüstern, den Cornflakeslöffel im Babygriff seiner blassen Faust.
    Es zeigt einen Mann allein in einem mittelgroßen Dodge. Es scheint gar nicht wieder aufzuhören.
    Das Band hat etwas an sich, die Körnigkeit des Bildes, die sprudelnden Schwarzweiß-Töne, die Kargheit – du meinst, es wäre wirklicher,

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