Unterwelt
Wirklichkeit, aber dann fragt sie nur, was das bedeuten soll.
Wie die Kamera auf den Schuß reagiert – eine Schreckreaktion, die Mitleid und Entsetzen mit ins Bild bringt, den Schock des Mädchens, die Identifikation des Mädchens mit dem Opfer.
Du siehst das Blut nicht, es läuft wahrscheinlich hinter seinem Ohr in den Nacken. So wie sein Kopf von der Tür weggedreht ist, durch die Verdrehung des Kopfes siehst du sein Profil nur zum Teil, und es ist die falsche Seite, nicht die Seite, wo er getroffen wurde.
Vielleicht bist du da ein bißchen aggressiv, daß du deine Frau geradezu zwingst, es sich anzuschauen. Warum? Was willst du ihr mitteilen? Gibst du ein kleines Statement ab? Etwa: Jetzt verderbe ich dir den Tag, einfach so. Oder ein großes Statement? Etwa: Das ist das Risiko des Daseins. Wie auch immer, du stößt sie mit der Nase auf dieses Band, und du weißt nicht warum.
Es zeigt, wie der Wagen auf die Leitplanke zuschlingert, dann kommt verwackelt eine Ahnung von zwei weiteren Fahrstreifen und einem teilweise sichtbaren anderen Auto, für einen Sekundenbruchteil verschwimmt alles, dann endet das Band, entweder weil das Mädchen nicht weitergefilmt hat oder weil irgendeine höhere Stelle, Polizei, Bezirksstaatsanwalt oder Fernsehsender, entschieden hat, daß jetzt nichts mehr kommt, was du unbedingt sehen mußt.
Das ist der zehnte oder elfte Mord, den der Texas-Highway-Killer verübt. Die Zahl ist nicht gesichert, weil die Polizei annimmt, daß einer der Schüsse auf das Konto eines Trittbrettfahrers geht.
So ein Videoband, das hat schon was, nicht wahr, und diese besondere Art des Serienverbrechens. Dieses Verbrechen ist geradezu geschaffen dafür, zufällig gefilmt und sofort gezeigt zu werden. Du sitzt da und fragst dich, ob diese Art von Verbrechen wahrscheinlicher geworden ist, seit die technischen Mittel, ein Geschehen aufzuzeichnen und sofort danach, ohne neutrales Intervall, ohne räumlichen und zeitlichen Ausgleich abzuspielen, allgemein zugänglich sind. Filmen und abspielen, das intensiviert und verdichtet das Ereignis. Es schafft das Bedürfnis, es wieder zu tun. Du sitzt da und denkst, der Serienmord hat sein Medium gefunden, oder umgekehrt – ein Akt der Schattentechnologie, der verdichteten Zeit und wiederholten Bilder, streng und glatt und unspektakulär.
Letztlich zeigt das Band sehr wenig. Es ist ein berühmter Mord, weil er aufgezeichnet wurde und weil der Mörder so oft zugeschlagen hat und weil das Verbrechen von einem Kind aufgezeichnet wurde. Die Kleine hängt also mit drin, Video-Kid, wie sie manchmal genannt wird, denn irgendwie müssen sie sie ja nennen. Das Band ist berühmt, und sie ist es auch. Sie ist berühmt auf die moderne Art, ihr Name wird planmäßig geheimgehalten. Diese Menschen sind berühmt ohne Namen und Gesichter, sind Geister, die außerhalb ihrer Körper leben, die Opfer und Zeugen, die minderjährigen Straftäter, irgendwo da draußen am Rande der Wahrnehmung.
Jemanden im Augenblick seines Todes zu sehen, seines unerwarteten Todes. Das allein ist schon Grund genug, wie gebannt vorm Bildschirm zu sitzen. Es ist lehrreich, sich anzuschauen, wie ein Mann totgeschossen wird, während er an einem sonnigen Tag durch die Gegend fährt. Es demonstriert eine grundlegende Wahrheit, daß nämlich jeder Atemzug, den man macht, auf zweierlei Weise enden kann. Und da ist noch etwas. Da verbirgt sich ein Witz, ein Hauch von grausamem Slapstick, den du bereitwillig genießt, auch wenn du ein bißchen Schuldgefühle dabei hast. Vielleicht ist das Opfer ein Tolpatsch, eine Art Stummfilmdoofi, der klassische Pechvogel. Geschieht ihm doch irgendwie recht, wenn er sich schon filmen läßt. Denn sobald das Band einmal läuft, kann es nur ein Ende geben. Das verlangt der Kontext.
Du hast keine Lust, dir irgendwelches Gerede von Janet anzuhören, das läuft ja andauernd, die zeigen es tausendmal am Tag. Sie zeigen es, weil es da ist, weil sie es zeigen müssen, weil sie dazu da sind, für unsere Unterhaltung zu sorgen.
Je öfter du das Band siehst, desto toter und kälter und gnadenloser wird es. Das Band saugt dir die Luft aus der Brust, aber du schaust es dir jedesmal an.
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M arian Shay fuhr geschäftlich nach Prescott hoch und gestattete sich eine Zigarette für die Zweistundenfahrt, und sie schaffte es, sie erst zehn Meilen vor der Stadt zu rauchen, als die Mobile Homes allmählich zahlreicher wurden und überall Fast food blühte und gedieh, und sie fühlte
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