Untitled
Nachbildungen klassischer Statuen geschmackvoll platziert standen. Jetzt lag dort ein dunkler Teppichboden. Andere Bilder zeigten die breiten Flure zu den Gästezimmern; und wieder andere die Suiten, luxuriös ausgestattet mit Teppichen in Blumenmustern, passenden Tapeten und Zie r leisten mit Eierstabornamenten. Die verblichenen Fotos strahlten eine Atmosphäre unaufdringlichen Luxus’ aus, der in krassem Widerspruch zu den Anschlagtafel voller Aushänge, den zerbeulten Spinden mit Bildern von Rockstars und den jugendlichen Stimmen stand, die aus den Klassenzimmern drangen.
Durch das rechteckige Fenster in der Tür zum Klassenzimmer sah ich Arch in der letzten Reihe sitzen. Vorne lief ein Film auf einer Leinwand, die sich herunterfahren ließ. Eine Aufnahme der Akropolis flackerte auf der Leinwand, begleitet vom lauten Dröhnen des Sprechers, gefolgt von einer Aufnahme des Kolosseums. Auf der Tafel las ich mit Kreide geschrieben die Worte: »Antike Städte: Athen und Rom.« Arch saß abgewandt vom Lehrer, die Beine von sich gestreckt, und passte nicht auf. Seine Brille war ihm auf der Nase hinuntergerutscht, während er sich über ein Buch beugte, das er in das Licht des Projektors hielt. Ich brauchte den Titel gar nicht erst zu sehen: »Ein Schiff aus Narnia«, sein derzeitiges Lieblingsbuch.
Ich kämpfte gegen den unwiderstehlichen Drang an, hineinz u gehen und ihm das Buch aus der Hand zu nehmen. Er war drauf und dran, in diesem Fach durchzurasseln, mein Gott. Aber ich hielt mich zurück. Es gelang mir sogar, nicht ans Fenster zu klopfen und ihn in Verlegenheit zu bringen. Doch dann ließ eine plötzliche B e rührung an meiner Schulter mich aufschreien. So viel zum Preis Mutter des Jahres: Ich verlor das Gleichgewicht, und meine Stirn schlug gegen das Fensterglas. In der Klasse fuhren sämtliche Köpfe zu mir herum. Hastig zog ich mich zurück, sah aber noch, wie Arch verlegen den Kopf in den Händen barg.
»Was ist?« fuhr ich Audrey Coopersmith brüsk an, die heute ein immergrünes Gabardinehemd und sackartige Hosen zu hohen Turnschuhen trug.
Sie gab einen wimmernden Laut von sich. Ihre perfekten Locken zitterten leicht.
»Tut mir leid«, sagte ich und meinte es ehrlich. Aufmunternd, ermahnte ich mich. »Was machst du hier?«
»Ich liefere Bücher aus. Ich war gerade im Büro des Direktors, aber die Sekretärin meinte, du seist hier.« Ihr Ton war vorsichtig; vielleicht fürchtete sie, ich würde wieder mit ihr schimpfen. »Hör zu, das war ein großartiges Essen, das du gestern gemacht hast. Nochmals vielen Dank. Übrigens, nach dem Seminar sagte eine Kollegin, dass in der Buchhandlung diesen Freitag eine, eine … Lesung stattfindet. Ich dachte, ich spreche heute morgen mit Perkins darüber, aber er hat eine Besprechung. Die Sekretärin ließ mich aber mit ihm telefonieren, weil es so kurzfristig ist …«
»So kurzfristig für was?« Mir schwante eine Gemüsepfanne für hundert Personen. Das letzte, was ich jetzt brauchen konnte, war noch ein Auftrag in einer ohnehin schon geschäftigen Woche.
»Der Direktor möchte die Lesung als Studienberatungsabend nutzen. Du und ich, wir sollen die Bewirtung übernehmen. Nach der Lesung, natürlich.«
»Sag es nicht. Halloween? Clive Barker. Stephen King.«
»Neein«, sagte Audrey. Sie wippte auf ihren Turnschuhen auf und ab; die Schlüssel an ihrer Gürtelschlaufe klingelten. »Es geht um Marshall Smathers.« Auf meinen verständnislosen Blick hin erklärte sie: »Er hat diesen Bestseller geschrieben: ›Der Aufstieg in die Eliteschulen.‹ Er gibt darin Tipps für das Zulassungsve r fahren.«
Echter Horror. Ich fragte: »Bezahlt die Buchhandlung die B e wirtung?«
»Nein, das übernimmt die Schule. Alle Schüler der Elk-Park-Schule sollen hinkommen. Es wird zeitig zu Ende sein, weil am nächsten Morgen die Eignungstests sind. Das Sekretariat ruft die Eltern an und sagt ihnen Bescheid. Perkins meinte, die Schule sei bereit, die Kosten zu übernehmen, wenn du ein kleines Schild a n bringst, dass die Erfrischungen eine Spende der Privatschule Elk Park sind. Das habe ich ihm vorgeschlagen«, erklärte sie mit einem leichten Schnauben.
»Audrey, du bist ein Werbekanone.«
Sie meinte matt: »Ich bin eine Kanone, das stimmt.«
Ich war mir nicht klar, ob die Verärgerung, die ich in mir au f steigen spürte, Audreys zynischem Tonfall oder meiner wachsenden Ungeduld mit ihrem chronischen Elend zuzuschreiben war. »Okay, okay«, meinte ich. »Sag Perkins, dass
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