Untitled
erlaubt wird, schließe ich mich auf der Flugzeugtoilette ein. Hier, gegenüber meinem gelb leuchtenden Spiegelbild, heule ich endlich ungehemmt los. Es ist so unwürdig. Es tut so gut. Der Schmerz ist riesig groß und er hat keinen Namen. Ich kann nur einen einzigen Gedanken lesen, ein Wort: Julia. Es wiederholt sich und wiederholt sich – eigentlich steht es nur vor mir da. Und es ist nicht aus Buchstaben gemacht. Ich sehe nichts. Es ist wie in meinen Träumen, wenn ich auf jemanden Bekanntes treffe, mit ihm interagiere, aber ihn nicht an seinem Aussehen erkenne, sondern einfach weiß: Das ist doch jetzt der oder die.
Ich muss einem Drang nachgeben und mir die Seite halten. Dabei atme ich tief aus und mache ein Geräusch. Ich stöhne. Ja: Ich muss stöhnen, um dem Schmerz Luft zu machen. Es ist alles derart fremd und unbegreiflich, was mit mir passiert, es beginnt mir Angst zu machen. Ich habe, das wird mir vage bewusst: Angst zu sterben. Hatte ich noch nie. Ich hielt mich für unsterblich und fühlte mich so, als bliebe mir unendlich viel Zeit. Als könnte ich machen, was ich will und das auch noch wann und wie. Und jetzt ist dieses Gefühl der Sicherheit weg, nicht einmal verdrängt, sondern verschluckt. Es wird nie wieder zurückkommen, das wird mir klar. Die Angst aber bleibt. Für immer. Auch das wird mir klar. Dieser Prozess der Bewusstwerdung läuft in rasender Geschwindigkeit ab. Mir bleibt keine Chance, etwas einzuwenden, zu rationalisieren, womit ich mir sonst gut helfen kann. Ich stehe vor diesem niedrigen Spiegel in der Toilettenkabine und schaue durch mich hindurch: ich staune, was ich allmählich begreife. Die Furcht, sterben zu müssen, gründet darin: Julia nie mehr wiedersehen zu dürfen.
Berlin
Ich stehe also am Gepäckband im Terminal des Flughafens Tegel und das schwarz geschuppte Band aus Kautschuk bringt die Taschen und Koffer ans Licht. Die Sonne scheint, es ist keine Wolke am Himmel, bestimmt ist es ziemlich kalt. Während ich warte, erreicht mich eine Nachricht, es hat eine ganze Weile gedauert, bis das iPhone sein heimisches Netz wiedergefunden hat: Deine Zeilen freuen mich, was sagst du zum Wetter? J
Aber noch während ich das lese, entdecke ich draußen, vor der Scheibe, inmitten der Willkommenspersonenmenge Senta und ich winke ihr zu. Was ist eigentlich genau gemeint mit dem Schöpfen des Verdachts – woraus denn?
Meine Augen müssen fürchterlich aussehen. Meine Augen sind eigentlich das Einzige, was ich an mir gerne habe. Und: Ich kann das nicht – mit einem Punkt, nicht etwa mit Ausrufezeichen denke ich das vor mich hin. Angstvoll. Ich bringe es nicht fertig, die Tasche zu nehmen und durch die Glastüren zu gehen. Senta begrüßen. Sprechen. Noch nicht einmal antworten geht. Lügen.
Es fühlt sich falsch an. Alles. Ich bin ein schlechter Mensch. Ich halte das nicht aus, Senta hinters Licht zu führen. Schon dass ich ihr nicht erzählen kann, was mir im Flugzeug passiert ist, schon das allein fühlt sich an wie lügen, wie ein gemeiner Verrat an jemandem, der vollkommen ahnungslos sein muss und meines Willens nach auchbleiben – soll? Es ist niederträchtig und gemein von mir, ihren Kuss zu erwidern, so als wollte ich das. Ganz so als gefiele mir das. Gefühle vortäuschen. Geht so: sich erinnern, wie es einmal war, und dann möglichst detailgenau nachstellen. Wie durchpausen von der Cornflakes-Schachtel. Im Taxi sitzen wir nebeneinander auf der Rückbank und das Händehalten fühlt sich seltsam an. Gespreizt. Ich bekomme ständig Informationen darüber, dass da eine Hand in meiner liegt. Wie die Finger geformt sind, über die Elastizität der Haut, in welcher Tiefe unter dem Bindegewebe dieser und jener Knochen fühlbar wird. In einem wissenschaftlichen Aufsatz habe ich gelesen, dass die überwiegende Mehrzahl aller Informationen unserer körperlichen Vorgänge an unserem Bewusstsein vorbeigeschmuggelt wird. Bekäme man nämlich wirklich jedes einzelne Update (Eingeatmet! Wimpergeklimpert! Ausgeatmet! Cornflake Nummer sieben verdaut! Eingeatmet!) und das auch nicht hektisch, aber immerhin sukzessive, sondern, der sogenannten Realität entsprechend, gleichzeitig!, man würde wahnsinnig. Ich bin auch kurz davor. Vor allem, da ich mir bereits vorstelle, was in circa zehn Minuten auf mich zukommt. Zu Hause. Und sie ahnt doch nichts. Woran soll man sich eigentlich aus der Affäre ziehen?
Ich war wohl nicht bei Trost, als ich ihr als Souvenir ausgerechnet das essbare
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