Untitled
müsste ich mich langsamer bewegen als sonst, aber nicht, um achtzugeben, sondern weil die Impulse mit Verzögerung weitergegeben werden. Ich verspüre eine Reihe kleiner Ängste. Am Vordringlichsten davon ist diejenige, dass es mir anzusehen sein wird, dass ich die Nacht hindurch getrunken und geweint habe. Das Wasser aus dem Duschkopf schmerzt auf meiner Haut. Das Abtrocknen auch. Beim Gedanken an Kleidung verzieht sich mein Gesicht zu einem Ausdruck, den man von kleinen Kindern kennt, die ihre Eltern aus den Augen verloren haben. Ich sehe das zufällig im Spiegel und schaue genauer hin – die Mimik lässt sich nur unter Anstrengung verändern. Mein Gesicht will diesen untröstlichen Ausdruck zeigen. Ich schlage mit der flachen Hand so lange gegen die Fliesen, bis der Spiegel aus seiner Verankerung springt und im Waschbecken zerschellt.
Lass mich! Der Zimmerwirt, angelockt von dem Krach zu früher Stunde, versucht die Badezimmertür zu öffnen. Doch davor liegt mein zusammengekauerter Körper und es gelingt ihm nicht mehr als ein Spalt, durch den ich, wenn ich denn aufschauen würde, seine Nasenspitze sich schieben sähe. Dann ein helles Auge: Alles okay?
Ich sage Ja. Und wiederhole das noch so lange, bis er die Zimmertür von außen ins Schloss gezogen hat. Noch immer keine Nachricht von Julia. Ich frage mich, ob sie, wie sie es mir gestern mitgeteilt hat, ihrem Mann tatsächlich alles erzählt hat – nun, da ich, ihr meine Dummheit offenbarend, als Partner disqualifiziert bin und sie darüber hinaus weitere Intrigen seitens Senta Kustermann zu befürchten hat. Und eigentlich frage ich mich nicht das, sondern: Bedeutet das denn, dass ich sie nie wiedersehenwerde? Dass ich ihr nie wieder schreiben kann, weil sie meine Zeilen ungelesen vernichten wird?
Kaum formuliert, werde ich von diesem Gedanken auf die unumgängliche Tatsache gestoßen – grausam, die Tatsache selbst besitzt seit Neuestem eine Stimmlage: Klar, sagt Julia. Und das Gewand der Tatsache an ihrer linken Schulter justierend: Oder was meinst du?
Tut mir leid wegen vorhin, sage ich dem Zimmerwirt im Vorübergehen.
Kaum geschlafen, stellt er fest. Hatte ich auch schon. Damals, wie gesagt. Als ich verliebt war. Zum Glück lange her.
Ich hatte ihr einen Song geschickt. Auch wenn sie mich gebeten hatte, sie mit weiteren Nachrichten zu verschonen: Musik ist unschuldig, sie spricht für sich selbst, hatte ich mir nach möglichst gewissenhafter Prüfung gesagt; restlos unparteiisch war ich freilich nicht. Ich stand weiterhin auf meiner Seite, wenngleich ich Erwägungen wie während vorangegangener Nacht angestellt, Gedanken à la Oder ist das zu viel – darf ich das Julia zumuten? – bislang noch nicht gekannt hatte. Bislang war ich ohne abzuwägen stets davon ausgegangen, dass alles, was ich gut fand, auch von dem anderen gut gefunden würde. Und in den meisten Fällen sogar mehr als das: überwältigt von meiner Idee würde der andere sich mir gegenüber als geschlagen zu erkennen geben. Ich und die anderen, das war bislang so gut wie eine Person. Ein Leib mit mehreren Gehirnen. Mit Julia, das war mir im Verlauf der schlaflosen Nacht zumindest ansatzweise klar geworden, entwickelte es sich exakt andersherum. Ich fand es befremdlich und der Großteil meiner Verunsicherung rührte von daher.
Die Nachricht trifft ein, als ich gerade eine Kabine des Paternosters besteige, um mir ein Layout am Arbeitsplatzder Grafikerin ansehen zu können. Julia bedankt sich für das Stück. Sie mag die Foals. Und zwar, wie sie schreibt: sehr! Und dieses Sehr mit Ausrufezeichen, das sich objektiv beurteilt rein auf die Band Foals, auf das Stück Spanish Sahara, auf den Mount-Kimbie-Remix dieses Stückes bezieht, es hat nichts mit dieser Person meines Namens zu tun – dieses Sehr mit Ausrufezeichen verändert trotzdem innerhalb weniger Sekundenpartikel meinen gesamten Zustand. Eben noch ausgelaugt, kaum anwesend und weder wach noch müde, sozusagen opak von meinem Erscheinungsbild her, fühle ich mich erfrischt und aufgerichtet, unter Geräten gesprochen: Ich wurde unter Spannung gesetzt. Das Licht scheint angenehmer aus den Röhren, der Teppich gibt nach, er will zur Wiese werden, ein langer Flur kann schön sein, schön werden, wenn Julia es so will.
Auf meine Antwort auf ihre Antwort hin antwortet sie mit der Frage, ob wir heute Nachmittag kurz telefonieren wollen. Es gibt eine Gelegenheit gegen viertel nach zwei.
Ich sehe gut aus. Das sagt man mir und ich kann
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