Untitled
aktiviert/Das Voranspringen einer Welle aus Neonröhren, die dreispurig über die gesamte Deckenlänge eines Großraumbüros im zehnten Stock des Größten Zeitungshauses Europas verlaufen/Der Industriehafen von Bremen/Mein Schreibtisch: Die weiße Platte bedeckt von Bleistiftnotizen (Nummern und Namen)/Das Display eines iPhones/Das Display meines iPhones/Ein Wimpernschlag/Espresso/Mein leeres Gesicht.
Es bleibt erstaunlich, was ein wohlgesetztes Wort anzurichten vermag. Es sind nur zwei Zeilen, die Julia braucht, um meine im Morgengrauen an sie verfasste Bitte um Vergebung abzulehnen; nein, es ist noch fürchterlicher: auf sich beruhen zu lassen. Das Wort, das mich erledigt, lautet: Dummheit.
Es ist, als ob jemand, als ob dieses Wort sogar einen an meinem Gehirn angeschlossenen Regler zurückdreht, mit dem sich dieses Potentiometer drehen lässt, woraufhin synchron zur Geschwindigkeit sämtliche Farbe, aller Klang und die Lebendigkeit der Gedanken und meines Gefühls heruntergefahren werden auf null. Was von mir übrig bleibt, ist eine Figur an meinem Schreibtisch, die ihr leeres Gesicht auf das Display eines iPhones gerichtet hält. Eben kein Schatten meiner selbst, sondern eine plastische Version. Von außen fühlt sie sich warm an. In ihrem Inneren ist nichts mehr als ein taubes Gefühl. Als sei ihr die Seele eingeschläfert worden.
Nach und nach kommen Leute herein, die Konferenz hatte ich selbst angesetzt. Ich höre, dass mit mir gesprochen wird, aber ich kann nichts verstehen. Ich ahne, dass mein Gesichtsausdruck einiger dringender Korrekturen bedarf, aber ich finde die Züge nicht. Die Bildredakteurin sagt, ich sähe furchtbar aus.
Julia hat immer geschwärmt, ich sei so hübsch. Aber Julia spricht nicht mehr mit mir.
Als eine Redakteurin mich konfrontiert mit der Frage, ob wir in der kommenden Ausgabe einen Nachruf auf Kai Margrander bringen sollten – und wenn ja, ob ich den schriebe, da ich ihn doch eben noch in New York? Sage ich: Ich weiß es nicht. Das Sprechen fällt mir schwer. Ich kann meine eigene Stimme nur unklar vernehmen und zu dem akustischen Problem kommt eines der Orientierung: die Worte erscheinen mir von ihren Dimensionen her als unpassend für die Größe dieses Raumes, meines vom Großraum zu allen Seiten durch gläserne Wände abgeteilten Büros. Ich artikuliere also entweder übervorsichtig oder gerate ins Flüstern. An den Gesichtern der im Halbkreis um die sogenannte Vorhaltefläche meines Schreibtisches sitzenden Kolleginnen entdecke ich zunehmend etwas wie Grausen. Ich sage: Jetlag. Mehr bringe ich nicht heraus. Wenig später bin ich in dem Glaskastenallein. Phasenweise schließe ich mich in der Toilettenkabine ein, um nicht beobachtet zu werden. Dort mache ich das Einzige, wonach mir vage der Sinn steht: Ich starre auf das Display des iPhones. An dem Apparat auf meinem Schreibtisch gehen einige Anrufe ein, zu den Themen Flagshipstoreeröffnung in London und Springreitturnier in Paris. Ich kann mir vorstellen, wie diese Gespräche verlaufen sind. Was mir im Verlauf dieses scheußlichen Tages drastisch klar gemacht wird: Ich habe den absurdesten Beruf der Welt.
Das Ende des Arbeitstages bedeutet leider noch längst nicht das Ende des Tages an sich. Die Zeit bis zum nächsten Morgen verbringe ich in einem Restaurant in der Nähe der Pension. Als dort geschlossen wird, in einer Bar. Dann allein in meinem Zimmer. Doch egal, wie viel ich trinke, egal, wie betrunken ich bin: Es gibt keinen Moment, an dem ich nicht an Julia denke. Jedenfalls kommt es mir so vor. Dabei könnte ich nicht sagen, woraus diese Gedanken im Einzelnen bestehen, was sie besagen – es ist wie ein Brummen, eine zerdehnte Melodie, die allem in mir zugrunde liegt: Julia
Ohne Ausrufezeichen, nicht als Frage, kein Punkt – es hört einfach nicht auf.
Soweit ich mich erinnern kann, hatte ich niemals Schlafprobleme. Im Gegenteil: In Zwangslagen, wenn ich mich einem Streit entziehen möchte zum Beispiel, kann ich rasch in tiefen Schlaf gelangen. Auch wenn ich alleine bin, es mir aber aufgrund der Situation an einem Ort unangenehm zu werden droht, flüchte ich in den Schlaf. Es ist ein Protestschlaf. Und ich bin dann nicht zurückzuholen, denn bislang schlief ich sozusagen unerschrocken.
Als die Sonne endlich aufgeht – beziehungsweise: als die Straßenbeleuchtung längswärts davonhüpft, erscheint amHimmel ein leuchtendes Grau. Ich habe ich eine durchwachte Nacht hinter mir; es fühlt sich seltsam an, als
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