Untitled
ihre Stimme, die das erzählt. Julia ist die böse Vogelmama, die mir Dunkles füttert. Und obwohl ich es gar nicht haben will, sperre ich den Schnabel auf.
Das Telefonieren nimmt uns beide derart mit, es strengt furchtbar an, das Stillsein und dem Rauschen des anderen lauschen tut wohl – bis Julia plötzlich hektisch wird: Oh, ich muss Schluss machen!
Und legt einfach auf.
Tut mir leid, das war zu abrupt. Scheiße!, steht in der Nachricht, die ich einen Wimpernschlag später von ihr erhalte.
Ich liege noch immer auf meinem Schreibtisch.
Es war sehr schön, mit dir zu sprechen, schreibt sie kurz darauf.
Der Tag endet mit einer Konversation, die einzig aus dem Austausch bretonischer Ortsnamen besteht. In dem nachmittäglichen Gespräch hatten wir festgestellt, jeweils viele Ferien an der französischen Atlantikküste verbracht zu haben. Später, viel später würden wir uns an diesen seltsam chiffrierten Schriftwechsel erinnern und Julia würde mich fragen: Wie kommt man auf so was.
Und ich würde sagen: Aus Liebe.
Und wie immer, obwohl es noch eine Weile hin sein wird, werde ich mich auch dann noch nicht daran gewöhnt haben, wird Julia darauf nichts erwidern. Kein Aha, auch kein Quatsch, kein Genau. Obwohl sie es war, die die Frage gestellt hat, wird sie die Antwort für sich stehen lassen (und für mich), so als sei ihr das zu brenzlig geworden und sie fürchte, sich sozusagen die Finger zu verbrennen mit jedem weiteren Wort. Und dennoch.
Als ich die Pension Zum Goldenen Reiter betrete, schiebt mir der Zimmerwirt einen Briefumschlag mit dem Aufdruck der Senta Kustermann Public Relation über den Tresen. Ich trenne die Klebenaht vorsichtig auf, während ich die Treppe hinaufsteige. Darin finde ich einen Mietbeleg der Self-Storage-Einheit am Westhafen: vier Kubikmeter – ist das nun viel oder wenig Habseligkeit?
An der Badezimmerwand über dem Waschbecken, wo heute früh noch der Spiegel hing, sind jetzt nur noch vier silberne Halteklammern zu sehen.
Besitz belastet, sagt der Zimmerwirt und schenkt ein. Stunden später bin ich allein, der Wein schläfert nicht ein wie gewohnt, zum Lesen bin ich wiederum zu betrunken, Fernsehen halte ich in keinem Gemütszustand aus. Alsoliege ich wach herum und eigentlich warte ich bloß ab, dass es wieder hell wird. Da brummt das iPhone, es ist eine Nachricht von Julia. Sie schreibt: Ich weiß, ich habe dir gesagt, du sollst mir nicht mehr schreiben, aber es ist mir wichtig, dir zu sagen, dass ich den Gedanken nicht ertrage, dass es dir schlecht gehen könnte – ist das pervers?
Das ist pervers, schreibe ich zurück. Ich bin es auch. Ihre Antwort, unverzüglich: Ich auch.
Damit begann das Schweigen. Und: Natürlich habe ich die Auswirkungen eines längeren Kommunikationsembargos unterschätzt. Und zwar ziemlich. Und wie!
Noch bin ich sozusagen vollgetankt mit einer anständigen Zahl von EM ails, dazu ein mehrstündiges Telefongespräch. Als besonders nahrhaft wird sich der zunehmend als identitätsstiftend verehrte Austausch der bretonischen Ortsnamen bewähren. Doch schützt selbst die Überdosis nicht vor dem Comedown, der unweigerlich mit dem Einsetzen der Dämmerung des nächsten Tages, ein Freitag, beginnt. Und für mich ist es nun nicht die Eule, die im Grau in Grau ihre Schwingen breitet. Der Schmerz des Vermissens fährt seine Geräte aus.
Man kann das alles wissen. Man kann sich, durchaus sogar laut und zudem noch vor dem Spiegel stehend, einzureden versuchen: Ich weiß, dass mein Herz nichts als ein muskuläres Hohlorgan ist, das mit rhythmischen Kontraktionen das Blut durch meinen Körper pumpt und so die Durchblutung aller Organe sichert. Und trotzdem spüre ich an dessen Sitz, etwas links versetzt von der Mitte meiner Brust, das Zentrum des Schmerzes. Dort vermisse ich sie. Um es noch verwirrender zu beschreiben: An der Stelle, wo mein muskuläres Hohlorgan pumpenderweise für die Durchblutung aller meiner Organe sorgt, dort vermisse ich ihre Worte. Dort spüre ich den Mangel, den Hunger, dieausbleibende Müdigkeit und den großen Durst. Egal, was man weiß. Es ist einfach so.
Das Sehnen haust an einem anderen Ort: Vom Ursprung meines rechten Leistenkanals, dabei dessen Verlauf über die Rippenbögen fortführend bis knapp unter die Achselhöhle dieser Körperseite erstreckt sich, das behaupte ich so, als hätte es Immanuel Kant nie gegeben, das Organ der Seele. Ich kann es mir nicht anders vorstellen, als dass es die Form einer Sprechblase hat.
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