Untitled
er bizarr bauchig geformte Tassen aus weißem Steingut gefunden, die wohl aus dem 17. Jahrhundert stammten. In denen wurde den Wartenden Kaffee serviert. Es trug sich dann so zu, dass Anna Wintour in Begleitung des ekelhaften André Leon Talley hereinkam. Sie sprach wie immer kein Wort, trug Sonnenbrille zur perückenhaften Frisur. Nach kurzer Wartezeit schoss Herr Talley auf Martin Margiela zu: Was das denn sein solle, warum man sie warten ließe – Martin Margiela, groß wie A. Leon Talley, aber im Gegensatz zu ihm spindeldürr mit langen Fingern, bot Kaffee aus besagten Tassen an. Woraufhin Talley, der eine feuchte Aussprache hat, zischte: You don’t want Anna Wintour to drink from one of your piss pots! Don’t you know who you are talking to?
Und sie ihm daraufhin den Rücken kehrten – und einfach abhauten. Ohne seine Kollektion noch eines Blickes zu würdigen.
Da beschloss Martin Margiela, nie wieder mit diesen Leuten zu reden. Und davon waren nicht nur die Journalisten der amerikanischen Vogue betroffen, sondern alle Journalisten weltweit. Für einen Modeschöpfer am Beginn seiner Karriere entspricht das einem Selbstmordversuch. Aber Martin Margiela überlebte ihn nicht nur, die Verweigerungshaltung und das Geheimnisvolle trugen Wesentliches zu seinem Erfolg bei.
Das Erzählen wühlt mich auf, ich fühle, dass es Julia auch so geht. Sie spürt, dass dies die Früchte meiner intensiven und zähen Recherche sind, die ich noch nie publiziert habe und die ich auch nie publizieren werde. Als einer der wenigen sind mir auch die Umstände bekannt, unter denen Martin Margiela nach dem Verkauf seines Namens die Maison verlassen hat. Ich werde es niemandem verraten, aber vor Julia will ich kein einziges Geheimnis behalten: Er ließ jedem seiner Mitarbeiter eine Flasche Champagner überbringen und änderte zur selben Stunde die Nummer seines Mobiltelefons. Heute lässt er sich ausbilden zum Restaurator von Gemälden des 17. Jahrhunderts.
Wir schweigen lange. Sie verabschiedet sich von mir mit einem Kuss, mit dem ich noch lange sprechen kann. So spät wie nur möglich treffe ich im Goldenen Reiter ein. Der Zimmerwirt ist verreist, angeblich zu Weinproben, ich nehme das mit Erleichterung zur Kenntnis, denn ich möchte nicht angesprochen werden, will heute niemandenmehr sehen. Beim Auspacken der Tasche fällt mir aus dem Rattanregal ein Buch sozusagen in die Hände. Auf dem Vorsatz lese ich ein Gedicht von René Char:
Es gibt einige unter uns, deren Wesen uns in ihren Bann schlagen kann.
Wer sind sie?
Ihr Code bleibt im Sinn des Lebens selbst beschlossen. Jedenfalls scheinen sie ihm nähergerückt.
Gelebt zu haben wird zwar Ursache selbst ihres Todes sein. Zugleich aber werden sie allein durch die aufziehenden Horizonte jenes Morgens, den sie, wie auch du, nicht mehr erleben werden, durchleuchtet – sie aber beginnen dann zu strahlen.
Wegzeiger ins Labyrinth echter Liebe!
Hinter geschlossenen Lidern wachend, erwarte ich den nächsten Tag.
Im achtzigsten Stockwerk
Über Nacht ist es Frühling geworden, Schwalben jagen mit dem Wind und ich stehe auf dem Balkon meines Stockwerks des Verlagsgebäudes, genauer gesagt stehe ich auf der Brüstung des Balkons. Mein Oberkörper klemmt zwischen zweien der senkrechten Streben, die in regelmäßigen Abständen zwischen Brüstungsoberfläche und Deckenvorsprung montiert sind, aber ich spüre keinen unüberwindlichen Widerstand, da geht sozusagen noch einiges, und weiter unten sehe ich die Straße und den Vorplatz mit den rechtwinklig eingefassten Erdflächen, aus denen Krüppelkiefern wachsen. In dem Vorgarten des Hauses, in dem ich die ersten zehn Jahre meines Lebens verbracht habe, gab es auch Krüppelkiefern. Als mir bewusst wird, was ich hier gerade mache und wozu es führen wird, verliere ich beinahe den Halt und muss mich nach innen fallen lassen, um nicht doch noch auf den Vorplatz abzustürzen. Der mit der blechverblendeten Rückwand des Raucherbalkons verschraubte Aschenbecher ist derart robust, dass er von der Wucht meines Aufpralls nicht abgerissen wird, sondern mir durch das T-Shirt hindurch den Rücken aufreißt. Das T-Shirt mit dem Aufdruck des Standard Hotel war mir in diesem Jahr das liebste. Nun ist es hin. Am Computer google ich eine Seite namens Therapie.de und suche mir anhand der Fotos eine Therapeutin aus, deren Gesicht nicht abstoßend wirkt, aber eben auch nicht so attraktiv,dass sie mir gefallen könnte. Unter zweien, die meine Kriterien erfüllen,
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