Untitled
nehme ich die mit dem Vornamen Julya.
Ihre Telefonstimme klingt sehr angenehm. Mir kommt es so vor, als spräche ich in ruhigem, charmantem Tonfall zu ihr – bis sie mich unterbricht: Ich kann an ihrer Stimme hören, dass ihr Zustand ernst ist. Haben Sie jetzt Zeit? Wir sollten uns unverzüglich sehen.
Ihre Praxis befindet sich in dem Hinterhof eines Gebäudes, über dem in Großbuchstaben steht: Praxis für Psychotherapie. Der Türöffner macht ein seltsames Geräusch, noch immer, nach so vielen Malen des Wartens auf dieses Geräusch kann ich es mir nicht vorstellen, aber wenn es dann laut wird, erkenne ich es sofort wieder.
Diese Julya ist sehr groß und blass, sie sieht wie Tilda Swinton aus, und sie überreicht mir ihre Hand zum Gruß wie einen angewärmten Tintenfisch.
Der Raum ist schlecht proportioniert, das Licht kommt von oben und es gibt keinerlei Krimskrams wie Fruchtbarkeitsstatuen oder chloroformierte Schmetterlinge. Ich lege meinen Parka auf die Liege und nehme Julya gegenüber in einem Sessel Platz. Sie nimmt einen Block, sie schreibt mit einem roten Stift – das hat kein System, sie wird in jeder Sitzung einen anderen verwenden. Anfänglich irritieren mich die wilden Bewegungen, mit denen sie den Stift über das Papier führt, denn was anderen durch Lippenablesen gelingt, schaffe ich beim Beobachten von Handschreibebewegungen: Doch bei Julya kann ich rein gar nichts entziffern. Malt sie bloß die Blätter voll, um ihre Aufmerksamkeit auf Touren zu halten? Bald schon ist mir das egal. Ich erzähle die ganze Geschichte. Anders als bei Betony lasse ich kaum noch etwas aus. Die weißen Augenbrauen der Therapeutin verlaufen von Natur aus in parabelartigen Bögen, als ich darauf zu sprechen komme, dass ich seit einiger Zeitalle Kleidungsstücke in doppelter Ausführung und somit einmal in Medium und einmal in sehr klein kaufe, damit wir dasselbe anziehen können; dass ich mich seit Monaten, wenn überhaupt, dann von Spaghetti mit Tomatensoße ernähre, weil das Julias Lieblingsgericht ist und das Bestellen, das Zubereiten und Aufessen dieses Gerichtes mich tröstet wie ein Schnuffeltuch; dass wir dasselbe Parfum benutzen; mittlerweile über tausend Musikstücke über den iTunes Store ausgetauscht haben; dass die Korrespondenz die Anzahl von fünftausend Emails überschritten hat; dass wir eine GPS -Funktion unserer iPhones dafür benutzen, jederzeit auf einer Satellitenkarte sehen zu können, wo der andere sich gerade aufhält – da zieht die Therapeutin ihre Augenbrauen noch um ein entscheidendes Stück weiter empor, sodass es aussieht, als lache sie gleich schallend los.
Aber das tut sie nicht. Und dafür bin ich extrem dankbar. Schließlich ist sie der erste Mensch, dem ich mich rückhaltlos offenbare. Und ein wildfremder Mensch ist sie noch dazu. Sie sagt: Das erscheint mir als unmöglicher Fall. Eigentlich ist eine Therapie dazu da, etwas wegzubekommen. Was Sie mir schildern, ist aber doch gut. Eigentlich. Das ist etwas, wovon fast alle hier träumen: Die große Liebe. Wir müssen herausfinden, warum es Ihnen dabei so schlecht geht.
Ich weiß das. Beziehungsweise: Ich meine zu wissen, warum. Weil ich nicht zusammen sein kann mit Julia. Weil sie verheiratet ist. Und ihren Mann nicht verlassen will.
Obwohl sie mich liebt.
Was sie mir freilich noch nie in Worten gesagt hat.
Aber ich fühle es.
Als die Therapeutin mich fragt, ob wir zusammen schlafen, und ich das wahrheitsgemäß verneine, findet sie den Fall doch interessant.
Sie fragt mich, ob ich das denn gar nicht will. Ich sage: O doch. Aber dass Julia sich sträubt. Warum ich das akzeptiere?
Weil sie sagt, dass sie dann nicht mehr mit Frederick zusammen sein könnte. Und dass dann eine Katastrophe über sie kommen wird. Und ich sage der Therapeutin, dass ich das auf gar keinen Fall will. Weil ich nicht will, dass es Julia schlecht geht.
Und daraufhin schaut sie mich an. Und wir sind eine Weile lang still.
Die Uhr läuft. Das ist eine ungewohnte, aber nicht unangenehme Situation für mich. Maxim und ich sind solche Punks, weil uns das Geld so etwas von überhaupt nicht interessiert. Und zwar nicht in dem Sinn, dass wir uns um Geld keine Gedanken machen müssten – im Gegenteil! Sondern, weil wir das wenige, was wir haben, sozusagen zähnefletschend und mit beiden Händen in diesen Ofen schmeißen, der freilich ebenso wenig existent ist wie dieses dem Bilde entsprechende Papiergeld, oder dieser Ofen, oder auch wir.
Die Therapeutin
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