Untitled
jemandem geworden: für Julia bin ich jemand. Ohne mich ist ihre Weltansicht nicht komplett. Das ist so ungewohnt wie schön. Ich kann damit nicht umgehen. Aber ich will.
Spät an diesem Tag, nach der Eröffnung, werden wir in schwarzen Wagen in das ehemalige Fundbüro der Stadt gefahren, dessen Innenleben für diesen einen Abend total umgestaltet wurde. Entstanden ist ein Labyrinth aus mit schwarzem Wildleder bespannten Wänden. Wir sehen gerade noch die Hand vor Augen, als wir uns in den vorgeschriebenen Zweiergruppen hindurchbewegen. In den Nischen sind kleine Szenen, sind Tableaux vivants eingerichtet. Ich nehme eine Opiumhöhle zur Kenntnis und ein Zugabteil aus den Zwanzigern, vor dem ich lange stehen bleibe, um danach alleine hineinzustolpern in einen Raum, in dem nur ein Grammophon spielt, eine Melodie, bloß altertümlicher, wie das schreckliche Sea of Love, und mir gleitet eine todbleiche Frau entgegen, nackt, mit kurz geschnittenen, dunklen Haaren, die mich an sich zieht und mit mir zu tanzen beginnt. Ich muss geschrien haben: Lass mich los!
Bitte.
Aber das nützte nichts. Ihre Haut, ihr Körper ist so kalt, ich fürchte mich. Und mit einem Mal steht da mein verloren geglaubter Gefährte! Er beugt sich über mich, wie ich, tränenüberströmt und nach Julia brüllend, mutterseelenallein in diesem düsteren Raum kauere. Und Adriano, Fashion Director bei L’Homme Officiel, sagt nur: Komm lass uns mal was essen gehn. In meiner Brusttasche würde mein Änderungsschneider Monate später einen handkalligrafierten Zettel aus pseudoaltem Papier finden, auf den die Nixe Forgive me/You owe me nothing/I surrender to you geschrieben hatte.
Wir nehmen unsere Tischkarten in scheckkartengroßen Etuis aus dem Leder von Wasserschlangen entgegen und betreten so ausgerüstet den großen Saal.
Mein Platz ist gegenüber von Kirsten Dunst und Gwyneth Paltrow, die mittlerweile derart gebotoxed ist, so als hätte man ihr eine Totenmaske auf ihre schönen Schultern geschraubt. Mir zur Seite wurde die Ehefrau des Investmentbankers gesetzt, der den Ausbau des Flagshipstores finanziert hat, weshalb sie sich noch während des Algensalats bemüßigt fühlt, sich mit mir an den Zahlen erregen zu wollen. Aus den Augenwinkeln nehme ich einen starken Zustrom von Gästen hinter einem Paravent aus schwarzem Molton wahr. In den ich mich mit einer vagen Entschuldigung einreihe. Dort, im Freien hinter einem Sichtschutz zur Straße hin, wird geraucht. Marc Jacobs, einen riesigen Brillanten im linken Ohrläppchen, bearbeitet seinen Blackberry. Ich ziehe mein iPhone hervor und rufe Julia an. Das Gespräch beginnt mit der Erzählung meines schrecklichen Erlebnisses mit der Wasserleiche und dauerte dann noch drei Stunden lang. Sie erzählt mir von einem schrecklichen Erlebnis, das ihr vor vierzehn Jahren in Äthiopien widerfahren war. Als ich zurück in den Saal komme, ist das Dinner vorüber.
Man hat mich nicht wirklich vermisst.
Princeton
In der jährlichen Umfrage auf edge.org antworteten die Wissenschaftler in jenem Jahr auf die Frage: Was wird unser Leben noch einmal richtiggehend verändern? Gestern, kurz bevor ich rausging, hat mir Kirsten Dunst durch ihre charmanten Zahnlücken hindurch dieses Wort zugeflüstert: Telepathy! Und ich rufe die Seite auf, während ich in der eigenen Welt des Terminals V des Flughafens Heathrow auf meinen Abflug nach Berlin TXL warte: Es gibt dort diesen Eintrag des Physikers Freeman Dyson, der berührenderweise eine Erfindung beschreibt, deren Wirkung weit nach dem Verstrichensein seiner Lebenszeit erst einsetzen wird. Ich schreibe ihm eine EM ail mit der Bitte um ein Gespräch.
Ja, die Radiotelepathie, sagt Freeman Dyson, als ich ihn von Berlin aus anrufen kann. Ich habe eigentlich alles, was ich davon weiß, was ich davon erwarten will, in diesem kurzen Text beschrieben: In vermutlich achtzig Jahren werden wir technologisch wie medizinisch so weit sein, das menschliche Gehirn vermittels einer Operation mit einem Gespinst aus Mikrowellensensoren zu umschließen. Ein jeder dieser Sensoren wird dann die Schaltvorgänge eines ihm zugeordneten Neuronenkomplexes registrieren. Und versenden. An ein anderes Gehirn, das ebenfalls in einem solchen Sensorenpanzer verpackt sein wird. Steht diese Technologie also bereit, wird es uns möglich sein, das Bewusstsein eines Menschen an dessen radiotelepathischen Partner zu übermitteln. Erstmalig wird es den Einzelnen möglich werden, große Augen zu machen
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