Untitled
vor wenigen Wochen die Beziehung zu einem Mann beenden konnte, von dem sie auf solche Weise benommen war. Sie hatte ihn vor Jahren auf einer Ausstellungseröffnung kennengelernt. Von dem Augenblick, da seine Frau ihn vorgestellt hatte, konnte sie sich nicht mehr von ihm lösen. Vor allem gedanklich nicht. Sie sahen sich nicht oft, aber wenn, dann waren alle Qual der Sehnsucht, das luftabschnürende Gefühl der Verlassenheit schlagartig vergessen.
Wenn ich dich nur sehe, geht die Sonne auf – das hört und liest man tausend Male und denkt sich dabei: solch ein Kitsch! Auch das Wort mutterseelenallein, auch zu Tode betrübt sein, Stein und Bein schwören, wie auf Wolken gehen, dass einem das Herz in die Hose rutscht, man weiche Knie bekommt beim Anblick eines anderen – und mit einem Mal ist da diese Person, die alle noch so abgegriffenen Worte und Sätze mit Sinn erfüllt. Mit ihrer selbst gewissermaßen. Dann ist es wie in dem romantischen Gedicht: und mit einem geheimen Wort/fliegt das ganze falsche Wesen fort. Tja. Aber es blieb dann eben so. Und er schaffte es nicht, sich von seiner Ehefrau zu trennen. Undim Januar wachte ich auf, sagt Betony, es war wie in dem Film von Alain Resnais, wo der alte Pfarrer der Selbstmörderin aus unerfüllter Liebe Mut zusprechen will, indem er ihr von dem Morgen berichtet, als er den Verlust seiner Frau endlich überwunden hatte: Ich erwachte mit einem Gefühl, als hätte ich neue Schuhe bekommen.
Ich spüre, dass ich große Angst bekomme. Der Gedanke, Julia zu verlieren – in echt oder auch bloß gedanklich, ist derart schrecklich. Ich will auf gar keinen Fall neue Schuhe bekommen!
Try to enjoy it, sagt Betony. Und zündet sich eine Zigarette an. It’s just love. It hurts as much as it heals.
Berlin
Vom Flughafen aus lasse ich mich direkt in den Verlag fahren. Ich weiß, wie ich aussehe – bei Betony habe ich zu lange in einen Spiegel gesehen; wo ich herkomme, sagen die Leute dazu: dem ist das Gesicht runtergefallen. Es ist mir scheißegal. Die Außenwirkung ist dennoch beeindruckend, man weicht vor mir zurück. Als meine Sekretärin hereinkommt, entfährt ihr ein Oh Gott. Ich gebe ihr einen weißen Luftpolsterumschlag, der mit der Adresse von Purple Brain beschriftet ist. Als der Bote eingetroffen ist, schickt J mir eine Nachricht, dass ihr dieses Parfum unendlich viel bedeutet. Sie kennt es nicht, natürlich nicht. Untitled wird erst zwei Monate später auf den Markt gebracht werden und in der bis dahin verbleibenden Zeit werden Julia Speer und ich die einzigen Menschen sein in Berlin, die nach Buchsbaum und Schierling duften. Das kann sie nicht wissen. Ich schreibe es ihr. Dass es ihr unendlich viel bedeutet, hat sie mir zuvor erklärt.
Wir sehen uns, ganz kurz, am selben Nachmittag. Wir vergraben unsere Nasen tief ineinander. Nie muss ich weinen, wenn Julia bei mir ist. Obwohl es mich wahrlich tief bewegt, sie zu küssen. In meinen Armen zu halten. Nur ansehen zu können allein genügt. In den wenigen Minuten, die uns bleiben, bis sie wieder gehen muss, erzähle ich ihr, wer Martin Margiela war. Ein Modeschöpfer aus Belgien, der in Antwerpen an der Königlichen Akademie studierte.Aufgewachsen in einem Haus, in dem sich das Ateliergeschäft eines Perückenmachers befunden haben soll; allzu viel weiß man von ihm ja nicht, denn in den letzten Jahrzehnten hatte er sich der Öffentlichkeit komplett entzogen. Von ihm existiert, ähnlich wie von Thomas Pynchon, nur ein einziges Foto und selbst die Wahrhaftigkeit dieser Aufnahme wird seitens der Maison Martin Margiela bis dato weder dementiert noch bestätigt. Martin Margiela ist meine Obsession. Ich schäme mich plötzlich nicht mehr, Julia davon zu erzählen, weil ich fühlen kann, dass sie mich deshalb nicht für hohl halten wird. Dass er die Farbe Weiß zum Erkennungszeichen gewählt hat. Dass selbst seine Etiketten weiß sind und die Kleidungsstücke von außen nur an den vier weißen Stichen, mit denen diese Etiketten eingenäht wurden, zu erkennen sind. Dass er ursprünglich den Journalisten nicht abgeneigt war bis zu jenem Tag, an dem er in Paris seine Kollektion in einem eigens angemieteten Supermarkt vorführte – er hatte sich als Erster vom Prinzip der Laufstegpräsentation verabschiedet. Sein Konzept hatte Pausen vorgesehen, in denen die Models neu eingekleidet wurden. In diesen Wartezeiten ging er, Martin Margiela, zwischen den Journalisten herum, bereit, die Fragen zu beantworten. Auf einem Flohmarkt hatte
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