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Untitled

Untitled

Titel: Untitled Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Bessing
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(beziehungsweise: wer weiß, wie es in einem aussieht, der betäubt wurde und reglos liegt – kann doch paradoxerweise gut sein, dass der munter vor sich hindenkt). Ich war froh: durch das Traumgeschehen in seiner Bedeutung vertieft, konnte ich mir nun sicher sein, dass ich Julias Brüste nie im Leben vergessen würde. Dass sie nun mir gehörten. Oder dies Gefühl, wie schön sie küsst. Wie sie sich anfühlt. Das schöne Gewicht ihres Körpers, wenn sie sich auf mich legt. Das schöne Gewicht ihrer Brüste, wenn sie diese sanft mir entgegenpresst. Den Geschmack ihrer Zunge, ihrer schlanken Finger. Ihren Duft.
    Der im Traum auferstandene Morgen nach dieser Nacht, das war der Beginn einer Zeit gewesen, als ich mir die Haare wochenlang mit Gummihandschuhen gewaschen hatte, um bloß nichts von Julias kostbarem Duft zu verlieren.
    Die Dauer solcher Gedanken lässt sich in der Niederschrift schlecht ermessen. Die lineare Form der Sätze entspricht nicht etwa deren gedachtem Ebenbild. Was der Satzrepräsentiert, ist abstrakt. Allein die gedankliche Beschäftigung mit dem, was ich von Julia in diesem Traum sah, was wir darin miteinander erlebten, nahm alle Stunden dieses Tages ein, bis es dunkel war. Da es schöne Gedanken waren, gelang es mir auch zum ersten Mal, aufzustehen. Und nach Einbruch der Dämmerung das Haus zu verlassen. Ich ging die Straße hinunter und bog dann ab in die Muldensteinstraße, zu Julias Haus. Ich war so benommen von den schönen Gedanken, vom Nachschmecken des Traumes, dass ich sogar den Mut hatte, ganz nah an ihrer Haustüre vorbeizustreichen, dort sogar für einen Augenblick innezuhalten und mir das Klingelschild zu besehen. Dort las ich Speer und das Lesen ihres Namens gab mir ein Gefühl, so als hätte ich bereits dort geklingelt. Ich tat es dann nicht. Es wäre wohl nichts dabei gewesen, die Wohnung stand ja leer, aber das hätte ich nie übers Herz gebracht. Die Vorstellung der einsam vor sich hinklingelnden Türglocke in der leeren dunklen Wohnung. Die Sinnlosigkeit des kleinen Apparates dort oben rührte mich zu Tränen und dann näherte sich auch noch jemand aus dem Treppenhaus und ich ging rasch fort. Im Park war es still. Kaum Spaziergänger auf den vom Regen dunkel überglänzten Wegen, es war noch immer nicht kalt geworden, der Teesatzgeruch kroch aus dem Gebüsch und ich sah die Jogger, die mir mit schimmernden Stirnen entgegentrotteten, verständnislos an. Ich ging den gewundenen Weg auf die kleine Anhöhe hinauf, dort auf der von Bänken umstandenen Lichtung setzte ich mich auf die klammen Leisten dieser einen, auf der wir an Julias Geburtstag eine Nachmittagsstunde eng umschlungen gesessen hatten. Und uns viel geküsst. Julia hatte damals den einzigen Satz gesagt. Er lautete: Küssen ist gut. Ich konnte die Sterne nicht sehen. Vor dem Nachthimmel trieben braungelbe Nebelschwaden. Und davorverhingen die Tränen meine Sicht. Da war die Spitze des Fernsehturms, den wir beide so gerne mochten. Ein verspiegeltes Mikrofon mit einem roten Leuchtstäbchen drin. Wann immer ich am Fernsehturm vorbeigegangen oder geradelt bin, hatte ich ein Foto für sie gemacht und ihr zugesandt. Das mussten Hunderte gewesen sein, denn man kam hier ja ziemlich oft am Fernsehturm vorbei. Die leuchtend rote Spitze war vage im Nebel zu sehen. Noch der kleinste Rest des roten Leuchtens erinnerte mich an sie. Der Fernsehturm, wie alles, wie die Bank, wie die Lichtung, wie der Weg auf die Anhöhe hinauf, der Park, das Viertel, die Muldensteinstraße, mein Haus und Julias Haus, ja selbst der Papierkorb aus Blech, gegen den Julia einst beim Küssen mit der Spitze ihres Stiefels gestoßen war – all diese kleinen und großen Nichtigkeiten, die nun mit einem Mal zu schweigen begonnen hatten, sie waren allesamt Teile unserer Welt.
    Julia hatte mir beigebracht, wie man die Welt zum Sprechen bringt. Nun war sie fort und es war schrecklich still. Von außen betrachtet, war alles beim Alten, hatte sie alles hiergelassen. Das Haus, die Straße, der Fernsehturm und das Klingelschild: es war nach wie vor alles vorhanden und heil. Aber es war eben nicht so, als hätte mir jemand bloß ein Stück aus dem Kuchen gestohlen; der Kuchen war ganz geblieben. Nur war ihm über Nacht sein Aroma entzogen. Das Aufleuchten des Telefondisplays war diffus durch den Stoff meiner Hose zu sehen. Ich nahm es heraus und erkannte an Form und Länge des Schriftzuges in der Absenderkennung, dass es eine Nachricht von Julia war. Ein Foto eines

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