Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Untitled

Untitled

Titel: Untitled Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Bessing
Vom Netzwerk:
Gewissen könnte wie eine verschleppte Grippe wirken: das ziehe aufs Herz. Dennoch war das, zehn Tage, nachdem ich Julia Speer kennengelernt hatte, zu früh, wie einige meinten – eventuell fand das sogar Senta Kustermann selbst: dass es noch zu früh war, um eine derart radikale Entscheidung zu treffen. Es würde noch ein weiteres Jahr dauern, dann fiele mir im Monoprix von Nizza eine Packung Tee (Verveine mit Minze) in die Hände, auf deren hübsch bedruckter Pappe stand: On ne change jamais une équipe qui gagne.
    Hingegen gab es einige, unter anderem auch den Wirt der Pension zum Goldenen Reiter, die Verständnis gehabt hätten, wenn ich Senta K. eine Weile konventionell betrogen hätte; beispielsweise um herauszufinden, ob es sich überhaupt lohnte, die eine für die andere zu verlassen. Ein ökonomisches Argument und von Wirtschaftlichkeit hatte ich keine Ahnung. Ich schrieb über Mode, da ging es um den Moment. Um die Schönheit. Und um Gefühl. Um das mit Leidenschaft empfundene Gefühl, dies oder das besitzen zu müssen; unvernünftigerweise. Weil man weiß, dass man erst mit dem Kleidungsstück bekleidet als derjenige erscheinen kann, als der man verstanden werden will. Ich schrieb für Leser, die Schönheit überall suchten, die der Schönheit erliegen wollten. Sei es der Schönheit eines schönen Wortes wie küssenderweise. Leute, die sich voreinander entblößt fanden, wenn sie sich, der Einladung zu einem Kuss nachgekommen, hinter den Wahrnehmungen ihrer Erscheinungen begegnet waren. Vor allem: Wiehätte ich Senta mit Julia konventionell betrügen können, wenn doch alles an meiner Beziehung zu ihr von Beginn an wie alles an ihr zutiefst unkonventionell war? Wenn, was wichtiger war in meinem Fall: das, was ich in einer, in zwei zusätzlichen Wochen des Hintergehens hätte herausfinden können, gar nichts von dem war, worauf es mir ankam in meiner künftigen Beziehung zu Julia. In dem Moment, da ich Julia Speer vor dem Bücherregal traf, als ich ihrer ansichtig wurde und ihre Denkweise vernahm, war es um mich geschehen – egal was daraus werden sollte: ich wollte unbedingt dabei sein. Mir war aber ebenfalls klar, dass ich für Senta Kustermann nicht solche unbedingten Gefühle empfand. Und dass es die unbedingten Gefühle für Julia waren, die mir als richtig erschienen. Dass mir ein für mich richtiger Weg von diesen Gefühlen gewiesen wurde. Auf Senta Kustermanns zentrale Frage: Hast du mit ihr geschlafen?, antwortete ich damals wahrheitsgemäß mit Nein. Und da verstand Senta die Welt nicht mehr. Mit dieser Antwort stellte ich mich außerhalb ihres Navigationssystems. Für sie bestand eine notwendige Bedingung des Fremdgehens in einem sexuellen Akt. Aber Küssen, Reden, Briefeschreiben?
    Als sie mich damals nach durchredeter Nacht bat, unsere Wohnung zu verlassen, ging ich umstandslos und zog die Tür so leise wie möglich ins Schloss.
    Aus meiner Perspektive betrachtet, ragten die Flaschenscherben um mich herum von dem Küchenboden auf wie eine Kraterlandschaft, umspült von purpurfarbenen Wassern, den Lachen der Weinreste, von denen ich mir theatralischerweise vorstellte, es wäre mein Blut. Es roch ja auch so wie ich (oder andersherum). Mir war kalt und ich fühlte mich zu dumm, um mich ungefährdet aus meinem Splitterbett erheben zu können. Von außen betrachtet sah alles soziemlich danach aus, als sei ich bald tot. Ich entdeckte das iPhone in einiger Entfernung neben dem Treteimer – es lag sozusagen auf dem Rücken, was mich erleichterte, denn das Display war trotz des Aufpralls heil geblieben. Die Rückseite war allerdings vollkommen zersplittert. Lediglich die winzige Öffnung des Kameraobjektives war noch von einer intakten Fläche bedeckt. Mit seiner kreisförmigen Fassung durch einen Aluminiumring fühlte ich mich dabei immer an das Auge eines Vogels erinnert. Für mich war es das Auge eines Agaporniden. Julia und ich, wir waren so: unzertrennlich. Wie die Liebesvögel, von denen es heißt, dass sie ein ganzes Leben lang beieinanderbleiben. Wenn einer stirbt, geht auch der andere ein.
    Wie ich da in der Splittersoße auf dem Steinboden lag, erschien mir das als schöne Vorstellung, als eine ausgesprochen schöne sogar. Und ich erinnerte mich an einen Moment vor vielen Jahren, Julia und ich kannten uns da jedenfalls noch nicht, da reisten wir samstags alle nach Hannover, um die Premiere von Moritz von Uslars zweitem Theaterstück anzusehen. Alle, damit meine ich so ziemlich alle

Weitere Kostenlose Bücher