Untitled
Leere in sich gequält.
Seit sie in Australien angekommen waren, konsultierte sie auch wieder einen Therapeuten. Die grausamen Angstzustände hatten sie in immer kürzeren Abständen übermannt. Oft tagsüber, wenn Frederick seine Arbeitsstelle besuchte. Dann aber immer häufiger auch, während er bei ihr war. Wenn er ihr abends in einem Restaurant von den ungewohnten Anforderungen seiner Tätigkeit berichtete – die Mitarbeiter, die Sprache, das Land und diese Stadt. Und natürlich hatte er viele Fragen an sie gehabt – sie war doch seine Vertraute! Aber ausgerechnet da funktionierte sie mit einem Mal nicht mehr. Nur noch ganz schlecht. Das mit der Einschränkung hatte sie von ihrem Therapeuten (sie hatte auf einen Mann bestanden). Gemeinsam wollten sie an der Aufrichtung ihres Selbstwertgefühls arbeiten. Zumindest hatte er das vor. Julia blieb skeptisch. Natürlich, wie sie beinahe belustigt anfügen wollte. Wenn es nur nicht so verdammt anstrengend wäre. Und traurig. Denn eine déformation professionelle war es ja nicht. Der Fachmannwar sogar der Ansicht, die Philosophie wirke fatal auf ihre Persönlichkeit. Die Verlustängste – weitgehend grundlos, seiner Ansicht nach –, ihre globale Verunsicherung und die Depressionen würden angesichts ihrer erworbenen Fähigkeiten des messerscharfen Nachdenkens und kaltblütigen Analysierens nur verstärkt – eben weil ihr diese Fähigkeiten im Nachdenken über sich und beim Analysieren ihrer Situation nicht hilfreich waren. Was nur dazu führte, dass sie sich selbst als nichts anderes begreifen konnte als etwas, auf dessen konsequente Beseitigung sie trainiert worden war: ein Problem. Als großer Kircheimdorflasser sah Frederick das nicht tragisch. Fühlte sie sich kurz davor, durchzudrehen, legte er seine schweren Arme um sie und sagte: gar nicht tragisch. Ist doch nicht schlimm. Dann brach sie in Tränen aus. Denn dann konnte sie spüren, dass Frederick sie liebte (O ja, und wie!). Sich selbst aber spürte sie dann schwächer und schwächer. (Ungesehen sank Julia in den Grund ihrer Brandstätte ein.)
Sie legte den schönen Kopf ein wenig in den Nacken, um Fredericks Hand, die unverändert stützend sich an dieser Stelle befand, etwas kräftiger zu spüren zu bekommen (und er zugleich sollte sie, sollte die Stränge ihrer Muskulatur befühlen dürfen, die dort unter ihrer nicht anders als kindlich zu beschreibenden Haut verliefen; wie sie sich anfühlten; dass sie voller Leben war, überall unter dieser Haut). Von ihrem Platz vor dem Auntie Pasta wies der Ausblick die Darling Street hinunter, bis dort das Meer in der Bucht zu sehen war. Und darüber, wie ein Portal: der altmodische Buckel der eisernen Brücke, dahinter die Hochhäuser der Innenstadt am gegenüberliegenden Ufer der Bucht. Die Häuser hier stichworteten New Orleans, die Brücke war der Weg vom Prenzlauer Berg in den Wedding (Berlin), die Bucht mit den Silbertürmen dahinter: Chicago. Alles inSydney und um Sydney herum war wie etwas woanders. Sogar die Tageszeitung hatte einen Schriftzug in Frakturlettern, der zwar etwas anderes sagen sollte, aber sie las noch immer zuerst: New York Times. Nur an den Zebrastreifen gab es runde Schilder, auf denen zwei marschierende Beine in Hosen, ohne Oberkörper aber mit Schuhen ein Zeichen bildeten. Die Schilder waren leuchtend gelb. Und diese Schilder hatte Julia noch nirgendwo sonst auf der Welt gesehen.
Aber dieser schiefe Baum mit seiner flirrenden Krone – dort drüben, vor dem Haus, gleich nach der einquerenden Johnston Street: Den gab es ihrer Erinnerung nach sowohl auf Sri Lanka wie auch auf Favignana, dieser Insel bei Sizilien, wo es sonst beinahe gar nichts gab, außer Felsen und rötlichen Staub und die Fischkonservenfabrik (und eine Taverne, auf der Mitte der Insel, zu der man entweder eine Stunde lang durch den heißen Staub wandern musste, oder aber mit dem Fahrrad, wenn man sich zur Abwechslung mal betrinken wollte – beides nicht ganz ungefährlich, bezüglich unversehrter Heimkehr nach dem Trunk).
An Favignana, die erste Ferienreise mit Frederick, hatte sie schon einmal denken müssen. Das war, als das Flughafentaxi vor dem Haus hielt, in dem sie künftig wohnen würden: vom Auntie Pasta eine halbe Stunde zu Fuß die Darling Street hinauf: Jane Street, Ecke Vincent. Das Haus mit der geschnitzten Veranda und den gelben Rollos hinter den Fenstern im oberen Stock. Sand – auf der Straße. Das war ihr sofort aufgefallen, Frederick hatte sie
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