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Untitled

Untitled

Titel: Untitled Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Bessing
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durchmischen, um auf dem Kabinenspiegel ein herrlich versales J aufmalen zu können, sodass, während irgendwo unter uns, auf japanischem Gelände das Kernkraftwerk von Fukushima zum Brennpunkt der weltlichen Besorgniskonzentration geriet, wir dort oben, gleitenderweise, von alledem zwar Kenntnis erhielten, aber es schien mir nicht nur so, der Planet und die Welt waren: unendlich weit weg. Oder wie es bei Depeche Mode weiter unten hieß: Never let me down again. Und dann der Schlaf. Danach das Erwachen. Ein Bordfrühstück, das wir trotz seiner Widerlichkeit verschlangen. Und später freilich, als man den Glauben daran längst schon verloren hatte, als der in den Wolken aufbewahrte Zustand als der einzig noch denkbare akzeptiert schien (wozu Beine?), erfolgte die Landung, der Blick aus den ovalen Fenstern zeigte, wie immer, wie gleich wo, eine faszinierend banale Landschaft, Sydney, das Aufspringen der Gepäckladeklappen, das Herumstehen der Ungeduldigen in den Gängen, bis sich die Luken öffneten, das Hinaufgehen in den Tunneln aus Aluminium, die ersten Werbetafeln, der Flughafen, die Rollbänder, die Snackbars, das Terminalgebäude. Ihre Stadt.
    Verabredungen. Und mein Kennenlernen ihrer Umgebung: der Sand auf den Straßen, die Einwohner, dass sie alle in Surfklamotten umhergingen, das Andersartige und das Gewohnte, an dem ich mich nicht gerade festhielt, aber mithilfe dessen ich meinen Aufenthaltsort am entgegengesetzten Teil des Planeten triangulierte – wie oft ich mich mit Julia getroffen haben mochte, wie oft wir uns verabredet hatten, wie oft diese Verabredungen abgesagt, verschoben oder neu angesetzt worden waren –, dies alles wurde dann letztlich verschluckt von einem unfassbar mächtigen Phänomen, ausgelöst von meinem Zusammenstoß mit einem Auto, dessen Lenker ich niemals kennenlernen würde; eigentlich also durch den Aufprall meiner linken Schläfe auf dem australischen Asphalt, herabgestürzt von meinem Public Bike, hernieder auf den ewig sommerlich warmen Straßenbelag der Darling Street, unweit des Balmain Hospital: Das Phänomen bezeichnet das elliptische Löschen des Gedächtnisses rings um den Zeitpunkt eines Schockerlebnisses herum. Es heißt antero- und retrograde Amnesie.

On Darling Street
    Die Welt ist voller Menschen, dachte Julia. Das iPad lag leuchtend auf ihren Schenkeln, die sie, ihre nackten Füße auf einen dritten Stuhl gestellt, zur Lesestütze aufgerichtet hatte. Auf dem zweiten Stuhl am Tisch des Straßencafés saß Frederick. Er las in seinem Buch. Sie war seit dem Anklicken der Zeitschrift noch keine Seite vorangekommen – obwohl sie öfters hinschaute. Julia legte ihren Kopf an seine Schulter. Er streichelte ihr, ohne vom Buch aufzuschauen, über den Nacken und hielt sich dann mit aufgespreizten Fingern in ihren Haaren fest, stützte ihren Hinterkopf. Vor ein paar Wochen hatten sie verabredet, dass sie es sich länger wachsen lassen würde. Als sie sich kennengelernt hatten, vor mittlerweile über sieben Jahren, hatte Julia ihr Haar auch länger getragen. Frederick hatte das damals schön gefunden, das hatte sich eben neulich erst, beim Betrachten alter Fotos, herausgestellt. Weiblicher war das Wort, das Fredericks Empfindung am präzisesten wiedergeben konnte, doch war ihm bewusst, dass Julia mit diesem Begriff, dem des Weiblichen, nichts anfangen konnte – wenn er auf sie gewendet wurde. Also: schöner. Frederick fühlte seine Empfindung für eine Julia mit längerem Haar dadurch nicht weniger gut erfasst.
    Worüber man dann alles doch nicht redet, dachte Julia. Dieser Einfall war infolge der Erinnerung an das Haargespräch mit Frederick gekommen. Eigentlich aus dieserErinnerung heraus, die wiederum hervorgerufen wurde durch sein von ihr nicht nur als angenehm, sondern als schön empfundenes Streicheln ihrer Nackenhaut bis in ihren Haaransatz hinein. Zärtlichkeit. Zärtliche Gefühle: das Gewahrwerden ihrer Gefühlswelt, die sich nach wie vor, nach mittlerweile sieben Jahren, rings um Frederick aufbaute (sobald Julia sie zu beschauen kam): es wirkte wie ein Sockel auf sie, der alle schönen Gefühle, die es für sie geben konnte, stützte. Und nährte. Ohne Frederick würde es in ihr öde und leer. Eine grauenhafte Vorstellung. Fürchterlich! Diese Ödnis in ihr würde ja eben nicht freundlich sein. Eine Leere, aus der alles Leben getilgt war, eine Brandstätte. Seit sie sich erinnern konnte, wurde Julia schon von der Furcht vor dieser auch sie selbst vertilgenden

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