Untitled
ver wahrlosten Körpers lag die deutlichste Darstellung der neuen Wahrheiten, die sich ihm offenbart hatten.
Dieses Zitat stammt aus einer Novelle mit dem Titel Der Glaube (La fede), die 1922 als Band erschien.
Sie erzählt von einem jungen Priester, der fühlt, daß er
seinen Glauben verloren hat und dies einem alten Priester mitteilen will, von dem er abhängig ist, aber er findet ihn schlafend vor. Und die neuen Wahrheiten, die sich ihm offenbart hatten, beziehen sich in der Novelle natürlich auf die Glaubenskrise des jungen Priesters. Doch hat der bittere Schlaf des alten Don Stefano seinerseits Luigi nicht eine neue Wahrheit geoffenbart? Das hatte ihm die Figur der Mutter ja bereits 1915 in der Unterhaltung gesagt:
Sieh die Dinge auch mit den Augen derer an, die sie nicht mehr sehen! Du wirst darüber einen leisen Kummer verspüren, mein Kind, der sie dir heiliger und schöner erscheinen läßt.
Und zuvor hatte sie über den Gatten erzählt:
Ich war damals schon siebenundzwanzig Jahre alt und hatte nicht mehr vor zu heiraten. Ich mußte es doch tun, weil er es wollte, der mein Herz durch sein angenehmes Äußeres und vor allem - in diesen Jahren des Aufruhrs - durch seine Begeisterungsfähigkeit bezwang, die ihr an ihm kennt, weshalb er noch jetzt, im Alter, jubelt und erschüttert wird wie ein Kind bei jeder Tat, die die Ehre des Vaterlandes vermehrt…
Und Luigi wird ihn ganz sicher vor Erschütterung weinen gesehen haben, da, in dem Garten, als die schönen Nachrichten über den siegreichen Krieg eintrafen.
Ja, genau das: ihn ansehen und wieder ansehen, diesen Vater, vor allem ihn, wie etwas, das man mit anderen Augen betrachten muß: vielleicht mit den Augen, mit denen ein Autor eine mögliche Figur betrachtet. Wie es ja auch schon bei der Mutter der Fall war.
DER VERGLEICH
Im übrigen war Don Stefano ja bereits eine Theaterfigur in den drei Akten von Das Recht der anderen (La ragione degli altri), in denen es um die Beziehung des Vaters mit der Cousine und früheren Verlobten ging. In der Wirklichkeit war diese Episode unauflösbar mit einer Handlung verbunden: der nämlich, daß Luigi der Geliebten des Vaters ins Gesicht gespuckt hatte, während sich der Vater hinter einem Vorhang versteckt hielt und man nur seine Schuhspitzen erkennen konnte. Jetzt geht es darum, diesen Vorhang aufzureißen, den ins Scheinwerferlicht zu stellen, der sich hinter dem Vorhang verbirgt, ihn als Theaterfigur neu zu gestalten, und zwar nicht mehr mit dem damals beleidigten Blick des Sohnes, sondern mit dem des Autors, einem anderen Blick. Doch um das zu tun, ist keine lange, eingehende Beobachtung notwendig, sondern ein ständiger, ein täglicher Vergleich. Und es ist ein Vergleich, der sich auf zwei Ebenen entwickelt: einmal der realen des alten Vaters und der Ebene Luigis, der seinerseits Vater ist, und der des Gedächtnisses, der Erinnerung, als Luigi ein Sohn war, der sich als solcher aber nicht hatte annehmen wollen, sondern sich als vertauschter Sohn verstand.
Aus diesen Jahren stammt eine Novelle mit dem bezeichnenden Titel Wenn man begreift (Quando si comprende). Sie spielt in einem Eisenbahnabteil, es ist ein Dialog zwischen einem Elternpaar, das Abschied von seinem Sohn nimmt, der in den Krieg zieht, und den anderen Reisenden. An einem bestimmten Punkt sagt einer von diesen:
Die Söhne kommen, nicht weil wir sie wollen, sondern weil s ie kommen müssen; sie wollen das Leben; und nicht nur das ihre, sondern auch das unsere wollen sie. So steht es! Und wir sind für sie da, nicht sie für uns. Und wenn sie zwanzig sind, ach, dann sind sie genau so, wie ich und Sie mit zwanzig waren. Da war unsere Mutter; unser Vater; aber da waren auch viele, viele andere Dinge, die Laster, das Mädchen, die neuen Krawatten, die Illusionen, die Zigaretten…
Und wir sind da für sie; nicht sie für uns: die Wahrheit dieser Feststellung hat er selber hart erfahren. Er hat sich so sehr eingesetzt, daß er fast seine Würde eingebüßt hätte, nur damit Stefano aus dem böhmischen Konzentrationslager befreit würde; er hat sich in den Augen eines Generals beinahe lächerlich gemacht, um zu Gunsten seines Sohnes Fausto Protest zu erheben; er hat Lietta ins Exil schicken müssen, um sie vor dem wilden Zorn ihrer Mutter zu bewahren… Doch was hat er erreicht? Bereits jetzt ist er gewahr, daß Fausto es immer verstehen wird, eine gewisse Distanz zwischen sich und den Dingen, die er tut, zu legen,
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