Untitled
und zwar sowohl als Mensch wie auch als Maler, ganz abgesehen von seiner Kindesliebe; er weiß, daß Lietta bereit ist, ihn zu verlassen, weil sie das Exil als ungerecht empfindet, zu dem er sie gezwungen hat. Und Stefano, hat er die Ratschläge befolgt, die er ihm per Post hatte zukommen lassen, vor allem den, nicht nachzu denken? Oder ist etwa dieses aufdringliche, liebevolle Vatergefühl, das nicht nur in den Handlungen, sondern möglicherweise auch in den Gedanken der Kinder stets gegenwärtig ist, eine Form der in ihrer Substanz zwar ähnlichen, aber in ihrer Form andersartigen Gewalt, die Don Stefano gewohntermaßen in seiner Familie ausübte?
Fragen, Zweifel, Sprachlosigkeit.
Und immer wieder kehrt die Schlüsselepisode in seine
Erinnerung zurück, die den Bruch mit dem Vater bezeichnete, als er ihn mit der Geliebten überraschte. »In ihm blieb ein stilles bekümmertes Bewußtsein von Schuld und Gewissensbiß zurück«, schreibt Gaspare Giudice. Und als Pirandello in der 1923 geschriebenen Novelle Rückkehr auf diese Episode zurückkommt, sagt er, daß er sich seit langem schon von dem geheimen Gewissensbiß geplagt fühlte, den Vater verlassen zu haben… ohne sich darauf einzulassen.
Und jetzt, wo er ihn jeden Tag vor sich sieht, in diesem schlimmen Zustand, bis wohin reicht da das Unbehagen, das »stille bekümmerte Bewußtsein«?
Und dann vor allem: Wieso riß der damals vierzehnjährige Luigi den Vorhang nicht auf, sondern begnügte sich lediglich, die Frau anzuspucken? Das wäre doch so leicht gewesen und auch logisch und natürlich, zumal er doch so angewidert war und ein Opfer der grausamen Unnachsichtigkeit der Jugend.
Tat er es nicht, um dem Blick seines Vaters nicht begegnen zu müssen? Warum sollte der vom Vorhang verborgene Körper ohne Gesicht bleiben, das sich auf ewig dem Gedächtnis einprägen würde? Spürte er schon damals, daß eines Tages die Stunde der Vernunft kommen würde, die Stunde, wenn man begreift?
VATER: Für mich liegt das Drama darin, Herr Direktor: mir ist bewußt, daß jeder von uns sich für »Einen« hält, aber das stimmt nicht. Er ist »Viele«, Herr Direktor, »Viele«, entsprechend all den Möglichkeiten des Seins, die in uns liegen. »Einer« für diesen, »Einer« für jenen - und alle völlig verschieden! Und dabei bewahren wir uns die Illusion für alle immer »Einer« zu sein, und zwar stets dieser »Eine«, für den wir uns bei jeder u nserer Handlungen halten. Das stimmt aber nicht! Das ist nicht wahr. Und das wird uns klar, wenn wir durch einen unglücklichen Zufall plötzlich an irgendeiner unserer Handlungen wie angekettet und aufgehängt sind. Das heißt: wir erkennen, daß diese Handlung nicht unser ganzes Wissen ausdrückt und daß es daher eine fürchterliche Ungerechtigkeit wäre, uns allein nach ihr zu beurteilen, uns an ihr angekettet und aufgehängt am Pranger stehen zu lassen für die Dauer einer ganzen Existenz, als ob die in dieser einen Handlung bestünde.
Das ist die Kernaussage des Vaters in Sechs Personen suchen einen Autor (Sei personaggi in cerca d'autore). Gewiß, die Beweggründe, die die Aufhebung der Vaterfigur notwendig machten, waren zahlreich, aber es besteht kein Zweifel: der Kernpunkt ist darin zu erblicken, daß Luigi den Vater in dem Augenblick sprachlos und in der Schwebe gehalten hat, als er ihn mit der Geliebten überraschte. Und gleich nach dieser Passage bringt der Sohn (der hier teilweise Luigi selbst ist) wieder seine Nicht-Verwandtschaft mit der Familie vor, sein Anderssein, sein Vertauschtworden-Sein, wie er damals noch glaubte:
SOHN: (gereizt) Laß mich in Ruhe. Ich habe damit nichts z u tun!
VATER: Wieso nicht?
SOHN: Ich habe nichts damit zu tun und ich will nichts damit z u tun haben. Du weißt genau, daß ich nicht dazu da bin, hier mit euch zu erscheinen.
DAS GROSSE PUZZLE
Der Schriftsteller Arnaldo Frateili erinnert sich, daß Pirandello, gleich nachdem er mit der Niederschrift von Sechs Personen suchen einen Autor fe rtig war, tief bewegt seine Freunde versammelte und ihnen die Arbeit vorlas. Niemand wußte etwas davon oder kaum etwas, der Autor selbst schien von der Macht und der Schnelligkeit überrascht zu sein, mit der das Stück hervorgebracht werden wollte. Frateili schreibt:
»Kaum hatte er die Sechs Personen fertig geschrieben, kam Pirandello zu mir und las seine Arbeit in meiner Wohnung vor. Anwesend waren sein Sohn Stefano, Silvio D'Amico, Alberto Cecchi, ich glaube
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