Untitled
auch in einem anderen Zusammenhang, auf die Beziehung zwischen Antonietta und Luigi, als ihm bewußt wird, daß seine Frau ihm nicht auf den Wegen der Kunst folgen kann und er sie »hinauswirft«, das heißt sie auf die reine Mutterfunktion beschränkt.
Und noch eine weitere Stelle des Vaters:
Begreifen Sie jetzt die Niedertracht dieses Mädchens? Sie hat mich an einem Ort, bei einer Handlung überrascht, an dem sie mich nie hätte erkennen dürfen, als einen, der ich für sie nie hätte sein dürfen. Und nun will sie mir eine Wirklichkeit aufdrängen, von der ich nie gedacht hätte, daß ich sie - in einem flüchtigen, beschämenden Augen blick meines Lebens für sie verkörpern müßte. Das, Herr Direktor, das ist für mich das Entscheidende!
Liegt darin nicht ein Tadel, den Luigi gegen sich selbst richtet, weil er Jahre und Jahre den Vater auf eine einzige Handlung, auf einen flüchtigen Augenblick in seinem Leben, auf einen Fehler festgenagelt, ihn dafür gekreuzigt hatte?
Und in dem Satz der Stieftochter:
Schrei doch, schrei doch, Mama!… Schrei, wie du damals geschrien hast!
Bezieht sich das damals sicher auf die von den Personen in der Phantasie des Autors erlebte Geschichte, als sie sich in einem ängstlichen, einem fiebernden Zustand des unruhevollen Entstehens befanden, doch vielleicht liegt im Schrei der Mutter, die die Stieftochter in den Armen ihres Mannes findet, ein schreckliches Echo des verzweifelten Schreis von Antonietta, als der Wahnsinn sie dazu führte, eine inzestuöse Beziehung zwischen Luigi und der Tochter zu vermuten.
»Das Ende der Sechs Personen«, hat Jean-Michel Gardair behauptet, »besteht in dem Prozeß der Entlastung des Vaters von der Beschuldigung des Sohnes, und zwar durch die phantasmatische Überlagerung zweier Szenen: des Ehebruchs und des Inzests. Wenn dieser Text in der Tat fundamental in Pirandellos Werk ist, dann ist er es aus anderen Gründen als denen, die er bewußt herausarbeitet. Pirandello tut so, als würde er glauben, daß er diese Figuren ›abgelehnt‹ habe, weil sie ihn nicht interessierten und nichts mit seinem persönlichen Drama zu tun hatten, um andererseits auf theoretische Neuartigkeit und die Meisterschaft seiner Schöpfung zu beharren. Nun gesteht er selbst, er habe dieses Stück in einem Zustand von Trance und unter der Last der Notwendigkeit geschrieben. In der Tat dient hier der gesamte konzeptuelle Apparat des Stücks (der Konflikt Schauspieler-Bühnenfiguren, die Unmöglichkeit einer Dramatisierung von Gespenstern in Abwesenheit des Autors usw.) nur dazu, das Bedürfnis (Pirandellos), sich öffentlich anzuklagen (den Vater zu entlasten), zu kaschieren. Dieses Bedürfnis mündete dann in der denkwürdigen Geste, mit der Pirandello bei der (katastrophalen) Premiere der Sechs Personen die Maske wegwirft: zum ersten Mal in seinem Leben zeigt er sich auf der Bühne, um das Publikum zu grüßen, und dann muß er die Pfiffe über sich ergehen lassen.«
Und über den Tod des kleinen Mädchens und den Selbstmord des Jungen schreibt Gardair weiter:
»Es darf hier nicht unbetont bleiben, daß das Alter der beiden Kinder, vierzehn und vier Jahre, einerseits mit dem Alter übereinstimmt, in dem eine jüngere Schwester Pirandellos gestorben ist, andererseits mit dem gleichen Alter, das er zur Zeit der in Rückkehr wiedergegebenen Szene hatte, in der am nächsten Tag eine andere seiner jüngeren Schwestern plötzlich schwachsinnig geworden war. Und schließlich zieht Pirandello mit dem unheimlichen Lachausbruch der Stieftochter, mit dem das Stück endet, für immer die Rache Antoniettas auf sich, dieser allzu klugen Erinnye, die das schreckliche Privileg der Hellsichtigkeit mit dem Wahnsinn sühnte.«
Die Versatzstücke eines Puzzles, die sich nach Jahren leidvoller Versuche auf wunderbare Weise zu einem einheitlichen Bild zusammenlegen, Lichtblicke, die sich wieder in ihre ursprüngliche Prismenförmigkeit einfügen.
Viele, vielleicht zu viele unterschwellige Beziehungen, manchmal ganz offenkundige, manchmal nur eben angedeutete, andere Male nur erahnte, von denen man nicht weiß, ob es die Mühe lohnt, sie alle ans Licht zu befördern. Doch eines scheint mir sicher: der Revolverschuß, mit dem der junge Sohn seinen Erdentagen ein Ende setzt, tötet auch eine Illusion, die sich über so lange Jahre mit Eigensinn, mit Starrköpfigkeit erhalten hatte: dieser Schuß läßt den vertauschten Sohn verschwinden, wenn er denn je
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