Untitled
Becher. Arflane füllte den Becher und reichte ihn Rorsefne, der ihn dankend annahm. »Ich habe viele Schiffe«, murmelte Rorsefne.
»Ich weiß. Sie besitzen mehr Schiffe, als tatsächlich unterwegs sein können.«
»Sind Sie nicht damit einverstanden, Kapitän? Der große Klipper liegt vor Anker. Sie werden zugeben müssen, daß wir alle anderen Städte innerhalb einer Dekade arm werden lassen könnten.«
»Sie sind sehr großzügig«, sagte Arflane und wunderte sich, daß Rorsefne mit seiner Barmherzigkeit prahlte, die nicht zu seinem Charakter zu passen schien.
»Ich bin klug.« Rorsefne gestikulierte mit einer verbundenen Hand. »Friesgalt braucht den Wettbewerb so sehr, wie Ihre Stadt und die anderen auf den Handel angewiesen sind. Wir sind schon zu weich, zu zufrieden und zu bequem geworden. Ich nehme an, daß Sie der gleichen Ansicht sind.« Arflane nickte.
»Das liegt in der Natur der Dinge.« Rorsefne seufzte. »Eine Stadt beginnt auf dem Höhepunkt ihrer Macht zu zerfallen. Es fehlt der Antrieb. Wir, auf dem Plateau der acht Städte, haben einen Punkt erreicht, auf dem uns nichts mehr anspornt. Und das Wild zieht sich zurück. Ich sehe für uns alle den Tod voraus, Arflane. Wir sterben früher oder später.«
Arflane zuckte die Achseln. »Das ist der Wille der Mutter des Eises. So etwas muß früher oder später eintreffen.« »Unsere Wissenschaftler sagen, daß der Eisspiegel ständig sinkt und das Wetter von Jahr zu Jahr milder wird.«
»Einmal sah ich am Horizont eine lange Reihe Eisklippen«, sagte Arflane. »Ich war erstaunt. Dort waren bisher noch nie Klippen zu sehen gewesen. Ich begann an meiner Kenntnis von der Welt zu zweifeln. Ich ging nach Hause und erzählte, was ich gesehen hatte. Sie lachten mich aus. Sie sagten, ich sei irgendeiner optischen Täuschung zum Opfer gefallen, und am nächsten Tag würden die Klippen verschwunden sein. Tatsächlich waren sie am nächsten Tag nicht mehr da. Seit dieser Zeit verlasse ich mich nur auf meine innere Überzeugung. Ich weiß, daß Ihre Wissenschaftler sich täuschen, so wie ich mich getäuscht habe.«
Rorsefne stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich möchte gern
Ihre Meinung teilen, Arflane, aber …«
»Sie sind anderer Meinung, nicht wahr?«
»Ich brauche ganz einfach einen Beweis.«
»Den Beweis sehen Sie überall, Sir. Die Natur steuert auf die äußerste Kälte und damit dem Tod zu. Auch die Sonne muß sterben.«
»Ich habe gelesen, daß es schon andere Eiszeiten gegeben hat. Immer überzog das Eis die ganze Welt und verschwand dann wieder.« Rorsefne richtete seinen Oberkörper auf und beugte sich ein wenig nach vorn. »Wie verstehen Sie das, Arflane?«
»Das war nur der Anfang. Zwei- oder dreimal wurde die Mutter des Eises zurückgetrieben. Aber sie ist auf die Dauer stärker und hat Geduld. Sie kennen die Antworten, die im Glaubensbekenntnis stehen.«
»Die Wissenschaftler sagen wiederum, daß die Macht der Mutter des Eises nicht ausreichen wird.«
»Das kann nicht sein. Sie wird alle Dinge beherrschen.«
»Sie zitieren das Glaubensbekenntnis. Haben Sie keinerlei
Zweifel?«
Arflane stand auf. »Keine.«
»Ich beneide Sie …«
»Das hat man mir auch schon gesagt. Es gibt nichts zu beneiden. Vielleicht ist es besser, an eine Illusion zu glauben.« »Ich kann nicht daran glauben, Arflane.« Rorsefne tastete mit einer Hand nach Arflanes Arm. »Ich sagte, daß ich einen Beweis brauche. Und ich weiß, so glaube ich, wo dieser Beweis gefunden werden kann.« »Wo?«
»Dort, wo ich mit meinem Schiff und meiner Besatzung war. Es war eine Stadt – viele Monate von hier entfernt. Im tiefen Norden. Haben Sie schon einmal etwas von New York gehört?«
Arflane lachte spontan. »Das ist eine Legende. Ich sprach von Illusionen.«
»Ich habe die Stadt von weitem gesehen, aber was ihre Existenz betrifft, so ist jeder Zweifel ausgeschlossen. Meine Männer haben sie auch gesehen. Wir hatten keinen Proviant mehr, und die Barbaren griffen uns an. So mußten wir vorzeitig umkehren. Ich wollte mit einer Flotte wiederkommen. Ich sah New York, wo die Eisgeister Gericht halten. Die Stadt der Mutter des Eises … Eine Stadt der Wunder. Ich sah Gebäude, die steil in den Himmel hineinragten.«
»Ich kenne diese Sage. Die Stadt erstarrte im Eis und wurde auf diese Weise erhalten. Ich glaube an die Lehre der Mutter des Eises, Sir, aber ich bin gewiß nicht abergläubisch.« »Es ist wahr. Ich habe New York gesehen. Seine Türme ragen aus einem glitzernden
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