Untitled
bemerken, und dann stünden sie wieder ganz am Anfang.
Oder noch schlimmer. Wären gefesselt.
Sie wollte den Rest ihres Lebens wirklich nicht gefesselt verbringen.
Gina setzte sich auf den Rand der Badewanne, schloss die Augen und versuchte, Max’ Gegenwart heraufzubeschwören. Was würde er ihr jetzt raten, wenn er am Telefon oder – noch besser – hier bei ihr wäre?
»Krieg raus, was sie wirklich wollen. Der Schlüssel zu jeder erfolgreichen Verhandlung ist nicht das, was die anderen angeblich wollen, sondern das, was sie in Wirklichkeit wollen.« Wenn er jetzt hier wäre, er würde gegen den Küchentresen gelehnt dastehen, ein Bild entspannter G e lassenheit.
Welche Ironie. Unter all den Menschen, die sie im Lauf ihres Lebens kennen gelernt hatte, war Max der verspannteste. Und der verschlossenste, der sich niemals in die Karten blicken ließ.
»Manchmal …«, hatte er einmal gesagt, als sie sich unte r halten hatten – wenn auch nicht über die wirklich wichtigen Dinge wie zum Beispiel, wie ihre Beziehung sich eigentlich weiterentwickeln sollte oder welche Gefühle sie tief im Herzen bewegten – »… ist das eine sehr große Herau s forderung, weil etliche Leute gar nicht wissen, was sie in Wirklichkeit wollen.«
Er hatte ihr erzählt, dass er schon Geiselnahmen erlebt hatte, wo der Geiselnehmer ihm eine riesige Liste mit Forderungen diktiert hatte. Geld, einen Fluchthubschrauber, eine Stellungnahme, die in der Zeitung abgedruckt werden sollte, eine Amnestie durch den Gouverneur und so weiter und so fort. Aber in Wirklichkeit hatte er einfach nur jemanden gewollt, der ihm zuhörte – richtig zuhörte.
Max hatte auch schon Situationen erlebt, wo der Geise l nehmer es auf Selbstmord durch ein Sondereinsatzkommando angelegt hatte. Nicht, dass der Idiot es jemals zugegeben hätte.
Doch was Emilio wollte, schien ziemlich klar und ei n deutig zu sein.
Die haben meine Frau.
Gina musste herausfinden, wer die waren. Wer Emilios Frau hatte und wieso sie im Austausch für sie Leslie/Dave/ Grady haben wollten.
Vielleicht sollte sie sich einfach mit Emilio zusamme n setzen und ihm von Max erzählen. Ihm erklären, dass er zwar im Augenblick ziemlich beschäftigt war, dass er aber in ein, zwei Wochen herkommen und mit seinem FBI-Team Emilios Frau aufspüren und retten würde und …
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Mach dir doch nichts vor, schien ihr Ebenbild im Spiegel über dem Waschbecken zu sagen. Und als Gina sich betrachtete, da hatte sie mit plötzlicher Klarheit ihr g e schwollenes und mit blauen Flecken übersätes Gesicht vor Augen.
So, wie sie noch Wochen, nachdem sie vergewaltigt und zusammengeschlagen worden war, ausgesehen hatte. Während der Geiselnahme in diesem Flugzeug hatte sie ve r sucht, mit den Kidnappern zu reden. Und hatte gedacht, z u mindest zu einem von ihnen ein gutes Verhältnis hergestellt zu haben. Oh Mann, hatte sie sich da getäuscht.
Sie hatte nicht begriffen, was sie wirklich wollten – dass der Tod ihr Hauptgewinn war. Und dass ihr Tod, Ginas Tod, eine Selbstverständlichkeit war, auch wenn sie mit ihr redeten und lachten und Witze machten. Dass sie in ihren Augen bereits tot gewesen war.
Es war ein Wunder, dass sie da lebendig herausgekommen war. Ein Wunder, das Max und sein gesamtes Team bewirkt hatten. Ein Wunder, das in seinen Augen ein Versagen war. Sein Versagen.
Sie haben meine Frau , hallten Emilios Worte in ihr nach.
Glaub ihm nicht, spottete ihr geschwollenes, verletztes Spiegelbild. Hast du denn gar nichts gelernt?
Aber was, wenn Emilio die Wahrheit sagte?
Mach die Augen auf. Schau dich um. Ein fensterloser Raum. Türschlösser nur außen. Das hat sich Emilio nicht nur für diesen speziellen Anlass zurechtgezimmert. Was will er in Wirklichkeit?
»Was will er in Wirklichkeit?«, hörte sie das Echo von Max’ Stimme in ihrem Kopf. »Manchmal wissen sie es nicht einmal selbst.«
Es gab nur eine Pistole. Zwei Männer, eine Pistole. Wenn es jemals einen günstigen Zeitpunkt gegeben hatte, um sich in die Freiheit zu kämpfen, dann jetzt.
Denk an das Stemmeisen, mahnte ihr zerschundenes Spiegelbild. Bis jetzt hast du einen Schlag mit einem Geweh r kolben abbekommen. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, wenn man von einem Stemmeisen getroffen wird? Außerdem: Bis jetzt haben sie dich anständig behandelt. Wenn du sie a n greifst, dann öffnest du der Gewalt Tür und Tor. Gott weiß, was sie dir dann alles antun werden.
Weitere Kostenlose Bücher