Untitled
Und wenn sie die Waffe erst einmal hatten …
Allerdings … was, wenn er ihren Bluff durchschaute? Sie würde doch niemals einem hilflosen kleinen Kind etwas a n tun. Was Emilio garantiert nach einem einzigen Blick in ihre Augen klar gewesen wäre.
Wer Geiseln nimmt, so hatte ihr Max einmal erklärt, muss auch bereit sein, sie umzubringen. Muss den festen Willen haben, zumindest ein menschliches Leben auszulöschen. Wenn nicht, dann spüren die Unterhändler das genau und schicken die Sturmtrupps los. Und die treten dann einfach die Tür ein und beenden das Ganze ohne jedes Blutvergießen.
Zumindest, ohne unschuldiges Blut zu vergießen.
»Sie haben einen wunderhübschen Enkel«, sagte Molly zu Emilio, während Gina ihr eine Wasserflasche reichte und eine zweite aufmachte. »Wie heißt er gleich noch mal … Danjuma?«
Bei der Nennung seines Namens hob der Junge den Blick und fing an zu lachen, als eine der Büchsen wegrollte. Dann krabbelte er hinterher.
»Es ist schon verblüffend, wie robust Kinder sein können«, murmelte Emilio, der den kleinen Jungen ebenfalls b e obachtete. »Erst vor einem Monat ist sein Vater – mein Sohn – vor seinen Augen hingerichtet worden.«
Oh Gott.
»Das tut mir wirklich leid«, sagte Molly.
»Seine Mutter«, fuhr Emilio fort, »meine Schwiegertochter – Sie haben sie vor wenigen Augenblicken selbst gesehen – war sich sicher, dass sie ihn auch töten würden. Manchmal machen sie das. Töten kleine Kinder, besonders Jungen, damit sie sich als Erwachsene nicht auf die Seite der bewaffneten Opposition schlagen können. Aber sie haben ihn verschont. Sie haben ihn stattdessen ins Gefängnis geworfen. Alle drei – meine Frau auch, verstehen Sie? Sie hat zugesehen, wie ihr einziger Sohn starb.«
Molly kaufte ihm die Geschichte ab, voll und ganz. Sie hatte Tränen in den Augen. Gina konnte sich nicht erklären, wieso er ihnen das alles erzählte. Um Mitleid zu ernten? Damit sie verstehen konnten, warum sie hier waren, warum er sie als Geiseln genommen hatte?
»Wer sind denn sie ?«, wollte sie wissen.
»Böse Männer«, antwortete er. »Habgierige Männer, die sehr viel verlieren würden, wenn Recht und Ordnung in Ost-Timor einkehren würden.«
»Haben diese Männer auch Namen?« Gina ließ nicht locker.
»Die Namen würden Ihnen nichts sagen«, antwortete er, »aber mich und meine Nachbarn lassen sie vor Angst und Schrecken zittern.« Er wandte sich an Molly – anscheinend hatte er erkannt, dass sie das bessere Publikum für seine dramatische Schilderung war. »Im Gefängnis wurde mein Enkel einige Tage von seiner Mutter getrennt. Imelda – Danjumas Mutter – war völlig außer sich. Als sie ihr den Jungen dann endlich wieder in die Arme gelegt haben, war sie bereit, ihre Forderungen zu erfüllen.« Er warf einen Blick auf die Tür, kam näher und senkte die Stimme, damit seine Schwiegertochter ihn nicht hören konnte.
Vorausgesetzt, sie konnte überhaupt Englisch.
Molly griff nach Ginas Hand. Ganz offensichtlich hatte sie jedes einzelne Wort seiner Geschichte geglaubt.
Doch Gina hatte nur einen einzigen Gedanken: Wo ist Emilios Waffe, und wie komme ich an sie ran?
Hatte er die Wahrheit gesagt? Vielleicht ja.
Wenn Gina im Lauf ihres Lebens eines gelernt hatte, dann das, dass die Menschen fähig waren, einander grauenhafte, scheußliche Dinge anzutun.
Sie dachte an Narari in Kenia, die mit dreizehn Jahren g e storben war. Und an Lucy, an deren Rettung sie beteiligt g e wesen war und deren ältere Schwester immer noch dort war. Die bald ihr Baby zur Welt bringen würde und genau wusste, was das bedeutete: Dass ihr erneut ins Fleisch geschnitten werden musste.
Sie dachte an den Terroristen, dem sie den Spitznamen Bob gegeben hatte, der ihr während der Geiselnahme in diesem Flugzeug seine Lebensgeschichte erzählt hatte. Sie hatte Mitleid mit ihm gehabt – sein Leben hatte nur aus Kämpfen bestanden. Sie hatte ihn als Person betrachtet und nicht als Entführer mit einer Waffe.
Er hatte sie nur als Mittel betrachtet, um ein blutiges Ende herbeizuführen.
»Ich weiß nicht, was sie Imelda alles angetan haben«, fuhr Emilio fort, und seine Stimme war leiser, aber sehr viel schärfer geworden. »Sie hat mir erzählt, dass sie gezwungen worden ist, bevor sie mit Danjuma gehen durfte, sich bei ihnen zu bedanken, dafür, dass sie ihren Mann umgebracht haben. Meinen Sohn.« Die Stimme versagte ihm. »Vergeben Sie mir.«
»Dass Sie uns entführt haben?«, fragte Gina.
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