Untitled
weltberühmten Entführungsprozeß denken, der vor sechzig Jahren stattgefunden hatte.
Richterin Linda Kaplan war als beredte und energische Frau bekannt, die sich nie von den Anwälten unterbuttern ließ. Sie war noch keine fünf Jahre Richterin, hatte aber schon mehreren großen Prozessen in Washington vorgesessen. Oft stand sie während der ganzen Verhandlung. Sie war bekannt dafür, daß ihre Autorität im Gerichtssaal nicht zu brechen war.
Gary Soneji/Murphy war ruhig, fast verstohlen zu seinem Platz geführt worden. Er saß schon und sah wohlerzogen aus, wie Gary Murphy immer aussah.
Mehrere bekannte Journalisten waren anwesend, von denen mindestens zwei ein Buch über die Entführung schrieben.
Die gegnerischen Anwaltsteams sahen am ersten Tag äußerst selbstsicher und gut vorbereitet aus, als wären sie unschlagbar.
Der Prozeß begann mit einer kleinen theatralischen Einlage.
In der ersten Reihe fing Missy Murphy zu schluchzen an. »Gary hat niemandem was getan«, sagte sie vernehmlich. »Gary würde nie jemandem was tun.«
Jemand im Saal rief: »Ach, das können Sie uns doch nicht erzählen, Lady!«
Richterin Kaplan klopfte mit dem Hammer und befahl: »Ruhe im Gerichtssaal! Ruhe! Das reicht.« Und ob es reichte.
Es hatte angefangen. Gary Murphy/Sonejis Jahrhundertprozeß.
58. Kapitel
Alles schien ständig in Bewegung und ein Chaos zu sein, vor allem aber meine Beziehung zu der Ermittlung und dem Prozeß. Nach der Gerichtsverhandlung an jenem Tag tat ich das einzige, was mir sinnvoll vorkam: ich spielte mit den Kindern Football.
Damon und Janelle waren Wirbelwinde der Aktivität, konkurrierten den ganzen Nachmittag lang um meine Aufmerksamkeit, erdrückten mich schier mit ihrem Eifer. Sie lenkten mich von den unerfreulichen Aussichten der nächsten Wochen ab.
Nach dem Abendessen blieben Nana und ich bei einer zweiten Tasse Zichorienkaffee am Tisch sitzen. Ich wollte hören, was sie dachte. Ich wußte, daß sie es aussprechen würde. Während des ganzen Essens waren ihre Arme und Beine in Bewegung gewesen wie bei einem Baseballspieler beim Wurf.
»Alex, ich glaube, wir müssen reden«, sagte sie schließlich. Wenn Nana Mama etwas zu sagen hat, wird sie erst still. Dann redet sie viel, manchmal stundenlang.
Die Kinder schauten sich im Nebenzimmer Glücksrad an. Das Geschrei und Gejubel bei der Spielshow gibt ein gutes häusliches Hintergrundgeräusch ab.
»Worüber wollen wir reden?« fragte ich. »Hey, hast du gehört, daß eins von vier amerikanischen Kindern jetzt in Armut lebt? Bald sind wir die moralische Mehrheit.«
Nana war bei dem, was sie zu sagen hatte, ganz gefaßt und nachdenklich. Sie hatte diese Rede vorbereitet. Das merkte ich. Ihre Pupillen waren braune Stecknadelköpfe geworden.
»Alex«, sagte sie jetzt, »du weißt, daß ich immer auf deiner >
Seite bin, wenn es um etwas Wichtiges geht.«
»Seit ich mit einem Matchsack und, wie ich glaube, fünfundsiebzig Cents in Washington angekommen bin«, sagte ich. Ich konnte mich noch lebhaft daran erinnern, wie ich »nach Norden« zu meiner Großmutter geschickt worden war; am selben Tag war ich mit dem Zug aus Winston-Salem auf der Union Station angekommen. Meine Mutter war eben an Lungenkrebs gestorben; mein Vater war seit einem Jahr tot. Nana ging in Morrison's Cafeteria mit mir zum Mittagessen. Es war das erste Mal, daß ich in einem Restaurant gegessen hatte.
Regina Hope nahm mich auf, als ich neun war. Nana Mama wurde damals die »Queen of Hope« genannt. Sie war Lehrerin in Washington. Sie war schon Ende Fünfzig, und mein Großvater war tot. Meine drei Brüder kamen um die gleiche Zeit wie ich in die Gegend von Washington. Sie wohnten bei verschiedenen Verwandten, bis sie an die Achtzehn waren. Ich blieb immer bei Nana.
Ich hatte Glück gehabt. Manchmal bekam ich Ärger mit Nana Mama, weil sie wußte, was gut für mich war. Sie kannte meinen Typ. Sie hatte meinen Vater gekannt, im Guten wie im Bösen. Sie hatte meine Mutter geliebt. Nana Mama war und ist eine begabte Psychologin. Ich taufte sie Nana Mama, als ich zehn war. Sie war damals Großmutter und Mutter zugleich für mich geworden.
Jetzt hatte sie die Arme vor der Brust gefaltet. Eiserne Willenskraft. »Alex, ich glaube, ich habe ein ungutes Gefühl wegen der Beziehung, in der du steckst«, sagte sie.
»Kannst du mir sagen, warum?« fragte ich.
»Ja, kann ich. Erstens, Jezzie ist weiß, und ich traue den meisten Weißen nicht. Ich möchte schon, aber ich
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