Untot mit Biss
anders geworden. Hier hatte ich nicht den Schutz eines Körpers und aller damit zusammenhängenden Verteidigungsmöglichkeiten. Ich war ein fremder Geist in ihrem Revier, und wenn sie sich deshalb ärgerten, konnte ich in Schwierigkeiten geraten. Von Billy wusste ich, dass sich Geister gegenseitig Energie abjagen konnten offenbar fiel es ihnen leichter, Kraft von ihresgleichen aufzunehmen als von Menschen. Er war des Öfteren überfallen worden, und einmal hatte es ihn so schlimm erwischt, dass ich ihm dringend Energie spenden musste. Andernfalls hätte er sich vielleicht für immer aufgelöst. Jetzt stand ich hier einigen Tausend hungrigen Geistern gegenüber, die einen guten Grund dafür hatten, sauer zu sein, weil ich in ihr Territorium vorgedrungen war. Bisher beschränkten sie sich auf die Rolle von Beobachtern, aber vielleicht gefiel es ihnen nicht, wenn wir ihr Schloss durchstreiften. Ich wollte es nicht herausfinden. »Das willst du nicht wissen«, erwiderte ich.
Tomas verzichtete auf Einwände, runzelte aber die Stirn, als er zu der Frau sah. Er schien aufrichtig um sie besorgt zu sein, was mich ihm gegenüber ein wenig auftaute. Es brachte mich auch zu der Frage, ob er ebenfalls in Gefahr war. Billy Joe weilte daheim in unserer Zeit und spielte den Babysitter für meinen Körper, doch in dem von Tomas wohnte derzeit kein Geist – was bedeutete, dass er tot war. Natürlich starb er jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, aber nicht auf diese Weise. Ich hoffte, dass wir bei unserer Rückkehr eine permanente Leiche für ihn vorfanden.
»Binden wir sie los«, sagte ich und wollte damit nicht nur mich ablenken, sondern auch ihn. Wir begannen mit dem Versuch, die Frau von der Streckbank zu befreien, doch das war leichter gesagt als getan. Ich wollte sie nicht verletzen, aber es ließ sich nicht vermeiden, ein wenig Schaden anzurichten. Die Seile schnitten ihr tief in die Haut, und das getrocknete Blut an ihr wirkte wie Klebstoff. Als ich sie von Händen und Füßen zog, lösten sich auch Teile der Haut.
Ich sah mich in dem Raum nach einer weiteren Wasserquelle um, doch es gab nur die an die Wände geketteten Männer. Einer hing an einem Vorsprung gut zweieinhalb Meter über dem Boden. Die Arme waren auf den Rücken gebunden und weit nach oben gezogen, die Füße mit Gewichten beschwert. Er bewegte sich nicht, hing einfach nur wie eine schlaffe Puppe da. Ein anderer lag unten im Stroh und stöhnte leise. Ich riss die Augen auf: Er sah aus, als hätte man ihn in kochendes Wasser geworfen. Die Haut zeigte ein grässliches, fleckiges Rot und löste sich in Streifen ab. Bei den übrigen ausgezehrten Männern gab es deutliche Hinweise darauf, dass sich die Folterer bereits um sie gekümmert hatten: blutig geschlagene Rücken, fehlende Hände und Füße, tiefe Schnitte in den Körpern. Ich wandte mich ab, bevor mir schlecht wurde.
Etwas berührte meinen Ellenbogen, und als ich den Blick senkte, bemerkte ich eine neben mir in der Luft schwebende Flasche. Vorsichtig griff ich danach und behielt argwöhnisch die zuschauende Menge im Auge. Doch keiner der Zuschauer machte eine bedrohlich wirkende Bewegung, und die Flasche roch nach Whisky. Wasser wäre mir lieber gewesen, aber der Alkohol linderte vielleicht die Schmerzen der Frau. »Hier, trinken Sie das.« Ich kniete neben ihrem Kopf und hielt ihr die Flasche an die Lippen. Sie trank ein wenig und fiel dann in gnädige Ohnmacht.
Ich überließ es Tomas, sich um sie zu kümmern, und versuchte, die Männer zu befreien, aber schon bald wurde die Aussichtlosigkeit dieses Unterfangens klar.
Die Frau war mit Stricken gefesselt, vermutlich deshalb, weil sich Ketten schlecht dehnten, aber die Männer trugen Eisen. Ich sah zu Tomas. Ich wollte nicht mit ihm reden und ihn schon gar nicht um Hilfe bitten, aber allein konnte ich diese Männer auf keinen Fall befreien. »Bist du imstande, diese Ketten zu zerreißen?«, fragte ich.
»Ich kann es versuchen.« Er kam zu mir, und wir gaben uns alle Mühe, doch ohne Erfolg. Wir schafften es nur, die schweren Ketten zu heben, waren aber nicht in der Lage, sie zu zerreißen. Die Reise zu diesem Ort schien uns viel Kraft gekostet zu haben. Allein das Losbinden der Frau hatte sich angefühlt wie drei Stunden auf einem Laufband mit maximaler Geschwindigkeit.
Ich fand, dass die Dinge im Großen und Ganzen nicht besonders gut aussahen.
Ich wusste nicht, wo ich mich befand, wie ich zurückkehren konnte und wann die Folterer aufkreuzen
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