Untot mit Biss
Tod – was in vielen, aber nicht allen Fällen bedeutete, dass sie ermordet wurden –, oder sie starben, obwohl eine wichtige Angelegenheit noch nicht zu Ende gebracht war. Manchmal kamen andere Faktoren hinzu, denn Geister konnten wie Menschen viele Dinge haben, die sie belasteten, aber normalerweise war einer der drei großen Gründe da. Was ich fühlte, waren Tausende von Geistern mit allen drei Hauptmotiven und außerdem einer ganzen Galaxis von zusätzlichen Dingen. Wenn sie noch am Leben gewesen wären, hätten sie die Vollbeschäftigung aller Gehirnklempner in den Vereinigten Staaten für die nächsten Jahrhunderte sichern können. Doch in der Geisterwelt gab es keine Psychiater. Dort gab es nur Rache.
Ein von Rachegelüsten geschaffener Geist bekam entweder Befriedigung oder hing herum und sehnte sich nach Vergeltung, bis ihm die Kraft ausging. Die meisten Geister hatten keinen regelmäßigen Energiespender, so wie ich es für Billy Joe war, und deshalb verblassten sie im Lauf der Zeit und schwanden immer mehr dahin, bis nur noch ihre Stimmen übrig blieben, und dann wechselten sie ins Jenseits der Geister. Ich spürte, dass einigen Seelen in diesem Durcheinander allmählich der Saft ausging, während andere so kräftig waren, als hätten sie erst gestern das Zeitliche gesegnet, was auch der Fall sein mochte. Daraus ließ sich der niederschmetternde Schluss ziehen, dass an diesem Ort seit Jahrzehnten – mindestens! – gefoltert wurde, vielleicht sogar seit Jahrhunderten. Dadurch hatte sich hier genug dunkle Energie angesammelt, dass sogar Nichtsensitive sie wahrnahmen. Ganz gleich, wie taub jemand gegenüber der psychischen Welt war: Ich bezweifelte, dass jemand diesen Ort des Schreckens betreten konnte, ohne dass es ihm kalt über den Rücken lief. Ich blickte mich um, sah aber sonst niemanden – es gab hier nur mich und den Chor der Verzweiflung. Was sollte ich tun? Ich war daran gewöhnt, dass sich meine Visionen auf eine vorhersehbare Weise verhielten: Sie kamen, trafen mich wie ein Hammerschlag und verschwanden wieder, woraufhin ich weinte und schließlich darüber hinwegkam. Doch in letzter Zeit verzweigten sich meine Fähigkeiten in neue, unangenehme Bereiche, und es passte mir nicht, dass das Universum plötzlich entschieden hatte, die Regeln zu ändern. Insbesondere weil ich mir einen anderen Ort ausgesucht hätte, wenn ich irgendwo stranden müsste. Kalter Wind strich mir übers Gesicht – die Geister wurden ungeduldig.
»Was wollt ihr?« Ich flüsterte nur, aber man hätte meinen können, dass ich in ein Hornissennest gestochen hatte. So viele Geister sanken gleichzeitig auf mich herab, dass ich aufblitzende Farben und Schlieren von Bildern sah, während ein Orkan durch den Flur heulte. »Aufhören! Hört auf. Ich verstehe euch nicht!« Ich wich zur Wand zurück und fiel hindurch, was mich darauf hinwies, dass ich keinen Körper hatte, zumindest keinen physischen. Nach einem verblüfften Moment erkannte ich die Folterkammer aus der anderen Vision wieder, aber diesmal befanden sich nur die Opfer in ihr. Ich stand auf und machte einige zögernde Schritte nach vorn. Eigentlich fühlte ich mich richtig fest an. Meine Füße verschwanden nicht im Boden, womit ich halb gerechnet hatte, und ich sah meinen Arm. Glücklicherweise gehörte er wirklich mir und nicht Tomas – mein Geist wusste wenigstens, welcher Körper meiner war. Ich betastete den Arm, und auch er schien fest zu sein. Ich konnte meinen Puls fühlen, und ich atmete. Und doch schien mich keiner der Gefangenen zu bemerken. Die Frau, die ich im Kasino befreit hatte, lag direkt vor mir, noch immer auf der Streckbank, aber sie war nicht verbrannt. In einem guten Zustand befand sie sich gewiss nicht, doch ich sah, wie sich ihre Brust hob und senkte, und gelegentlich zuckten ihre Lider – sie lebte noch.
Ich hörte ein Geräusch hinter mir, blickte über die Schulter und sah mehrere Tausend Personen, die alle still dastanden und mich beobachteten. So vielen bot der Raum gar nicht Platz, aber sie waren trotzdem da. Und im Gegensatz zu meiner Erfahrung mit Portias Bataillon von Südstaatensoldaten protestierten meine Sinne diesmal nicht. Ich konnte sie sehen, ohne dass sich meine Augen verdrehten oder versuchten, aus dem Kopf zu entkommen. Vielleicht gewöhnte ich mich daran. »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte ich, doch niemand bot mir Rat an.
Ich wandte mich wieder der Frau zu und stellte überrascht fest, dass sie mich ansah.
Weitere Kostenlose Bücher