Untot | Sie sind zurück und hungrig
ich.
Und es hat aufgehört zu regnen. Nach dem Wolkenbruch, dem Tosen des Flusses unter der Brücke und dem Hubschrauber ist die verhältnismäßige Ruhe fast erschreckend. Und da sind ja auch noch die Geräusche, die ich selber mache, auch wenn ich zuerst gar nicht merke, dass ich es bin. Ich zittere unkontrolliert und gebe durch meine bebenden Lippen buchstäblich »Wa-wa-wa«-Laute von mir. Witzig irgendwie. Ich ziehe den Kragen meiner Jacke zurecht und bin dermaßen geschlaucht vom eiskalten Wasser, dass mein Gehirn sich keinen Reim auf meine Körpertemperatur machen kann. Am Erfrieren – knallheiß – am Erfrieren. Nun entscheide dich mal! Aber die Tatsache, dass ich immer noch atme und in einem Stück bin, erfüllt mich mit einem überwältigenden Gefühl der Unbesiegbarkeit und ich möchte fast laut lachen. Wenn ich die Kraft und die Puste dazu hätte, würde ich es glatt machen.
Ich habe einen Watstiefel verloren. Nicht zu fassen, aber das ist anscheinend schon der ganze Schaden. Ich sehe hoch und stelle fest, dass ich mitten im Wasser auf einer Art grasbewachsenen Kuppe liege.
Wie lange ich wohl ohnmächtig gewesen bin? Jedenfalls lebe ich noch, während die anderen vielleicht entführt oder erschossen oder aufgefressen worden sind.
Verdammt … Wo ist der Hubschrauber hingeflogen?
Ich reibe mir die Augen und sehe mich um, während sich meine Atmung langsam wieder normalisiert – beinahe.
Nebel. Dichter weißer Nebel, der einem in die Atemwege kriecht. Er fühlt sich klamm an auf der Haut; ich kann ihn fast schmecken.
Nirgendwo wummernde Rotorblätter, keine Rufe, keine Schüsse. Nur das weiße Rauschen des Flusses und der schmatzende Matsch, als ich vorsichtig aufstehe und probiere, ob meine Beine noch funktionieren.
Ich überdenke meine Lage. Soweit ich sagen kann, bin ich nicht wirklich irgendwo gestrandet – um meine kleine Insel herum fließt nur das Schwemmwasser des über die Ufer getretenen Flusses. Ich kann vielleicht zehn Meter weit in die Zukunft sehen, mehr nicht. Nahebei ist noch so eine grasbewachsene Kuppe und darauf eine braune Masse wie ein großer Ballon mit vier dünnen Stöcken dran, die in die Luft ragen. Erst als ich die Hörner sehe, begreife ich, was das ist. Eine fette tote Kuh. Bis zum Platzen voll mit gärenden Tote-Kuh-Gasen.
»Hallo, da drüben«, krächze ich. »Das mit dem Wasser nervt total, hm?«
Aber das ist auch schon alles, was ich ausmachen kann. Ich habe keine Ahnung, wo die Straße ist, wo die Bäume sind und wie weit ich von der Stelle entfernt bin, an der ich ins Wasser gefallen bin. Ich habe mich verirrt und bin stärker ausgekühlt, als ich es für möglich gehalten hätte. Ich frage mich, ob ich Jacke und Fleecepulli besser ausziehen sollte. Was würde der Typ in dieser Survival-Show machen? Ich bin mir ziemlich sicher, dass er sich nackt ausziehen würde. Was ja gut und schön ist, wenn man einen Feuerstahl im Schuh stecken und brennbares Moos zur Hand hat oder mit was man sonst so Feuer macht – aber eher nicht so toll, wenn man auf einer grasbewachsenen Kuppe angeschwemmt worden ist und so wenig Ahnung hat wie ich.
Erst als ich mir die Jacke ausziehen will, merke ich, dass ich einen Rucksack über der Schulter hängen habe, und jubele fast vor Freude. Mit eisigen Fingern ziehe ich die Kordel auf.
Als ich sehe, was da drin ist, möchte ich am liebsten weinen. Zwei fest zusammengeknüllte Kugeln aus Synthetikstoff. Ich wickele die erste rasch auseinander, aber ich weiß schon, was das ist. Regenkleidung. Mein Vater hat damals immer ein, zwei Sets im Auto liegen gehabt, für spontane Wanderungen durch die Pampa. Dieser unverkennbare Geruch trägt mich zu ihm zurück, zu verregneten Ausflügen, elendigen Spaziergängen und steif gehaltenen Ohren. Nun muss ich doch flennen, aber nicht bloß vor lauter Sentimentalität. Zum ersten Mal seit langem habe ich etwas, womit ich meinen Hintern bedecken kann. Ein Paar wasserdichte lange Hosen und ein Windhemd zum Überziehen.
Und jetzt weiß ich genau – falls daran überhaupt je ein Zweifel bestanden hat –, dass Mum diese Sachen dort für mich deponiert hat und dass sie weiß, was sie tut. Dass ich es tatsächlich schaffe, ihren Brotkrumen zu folgen, macht mich so was von heilfroh, wie ich es nie offen zugeben würde. Und wenn sie weiß, was sie tut, dann nimmt dieser ganze Mist ja vielleicht doch noch ein gutes Ende. Oder wenigstens irgendein Ende.
Ich ziehe mich rasch an und mir ist sofort
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