Unvergessliches Verlangen: Roman (German Edition)
geschafft war, war es bereits Nachmittag und Olivia hatte Jack noch immer nicht wiedergesehen. Sie wusste, dass sie ihm bewusst aus dem Weg ging, denn jeder Besuch bei ihm wühlte sie nur noch mehr auf, jeder Moment, in dem sie die Tür öffnete, seine Stimme hörte und sah, wie bei ihrem Anblick ein breites jungenhaftes Lächeln auf seinem Gesicht erstrahlte, jeder Moment, in dem sie sich gegen den unvermeidlichen Schock wappnete, ihn berühren zu müssen.
Sie konnte ihre hart erkämpfte Distanz zu ihm nicht länger aufrechterhalten. Ihre wertvolle Kontrolle. Sie wusste, dass es in ihrem Leben weitergehen würde wie vorher. Es hatte fünf Jahre gedauert, um zu lernen, wie sie mit Würde allein leben konnte. Doch nach diesen wenigen Tagen würde sie wieder von vorn beginnen müssen.
Die Kirchturmuhr schlug ein Mal, als Olivia genug Mut gesammelt hatte, um sich zu zeigen. Ihr Körper hatte zu singen begonnen, als sie die erste Stufe erklommen hatte. Ihr Herz hatte angefangen, schneller zu schlagen, ihre Hände waren feucht. Sie hatte Angst. Sie war aufgeregt. Sie war so aufgewühlt und hin- und hergerissen, dass sie sich nicht sicher war, ob sie jemals wieder zur Ruhe kommen würde.
Er saß in einem Ohrensessel am Fenster und spielte mit Thrasher Karten. Harper hatte ihm offensichtlich Kleidung geliehen, denn er trug ein zu großes Hemd und eine Hose. Thrasher hatte ihm seine Perücke ausgeborgt, die wie ein pelziges Barett auf Jacks Kopf thronte. Sein dichtes dunkles Haar lockte sich an den Rändern. Bei seinem Anblick musste Olivia sich ein Lächeln verkneifen.
»Das, Sir«, beschuldigte Jack seinen kleinen Herausforderer, »ist Betrug.«
Thrasher sah von seiner abgeworfenen Karte auf. »Natürlich ist es das«, gab er strahlend zu. »Das ist die einzige Möglichkeit, gegen feine Leute zu gewinnen.«
»Sei nicht albern«, entgegnete Jack, nahm die Karten auf und mischte sie. »Und ich werde nicht gern ›fein‹ genannt, du Straßenräuber.«
Thrasher lachte, als hätte Jack ihn gekitzelt. Er sprang auf, um seine Perücke zu holen, und setzte sie auf seinen eigenen Kopf. »Jetzt bin ich auch ein feiner Mann.«
»Ach, das ist ja gut«, erwiderte Jack. »Jetzt kann ich betrügen.«
»Da komme ich ja gerade rechtzeitig«, sagte Olivia und trat ins Zimmer. »Ich fürchte, das Haus fällt in die Hände von Schurken.«
»Schurken.« Thrasher nickte. »Das sind wir.«
»Es fällt mir auf, Mylady«, sagte Jack, lehnte seinen Kopf an die Rückenlehne des Sessels und sah Olivia flehentlich an, »dass Sie mich heute noch nicht geküsst haben.«
Harper hatte Jack am Morgen den Kopfverband abgenommen. Nun lag die noch immer geschwollene, schlimme Verletzung an der Seite seines Gesichtes frei. Olivia ertappte sich dabei, dass sie die Narbe küssen wollte. Sie fragte sich, ob ihr Lächeln so angespannt aussah, wie es sich anfühlte.
» Mir fällt auf«, erwiderte sie und stemmte die Hände in die Hüften, »dass du dein Essen noch nicht gegessen hast. Soll ich dir lieber Haferschleim holen?«
Das Gesicht, das er zog, hätte sie früher zum Lachen gebracht. »Nur, wenn du mich endgültig umbringen willst. Ich flehe dich an, Livvie, keinen Haferschleim mehr.«
»Dann Suppe. Und ein bisschen Brot.«
»Einen Kuss.«
»Du warst sehr krank, Jack.«
Er schmollte. »Ich habe gehört, dass noch niemand an einem Kuss gestorben ist. Tatsächlich ist bewiesen worden, dass ein Kuss einen Menschen vom Tod erwecken kann.«
»Nur in Märchen.«
»Wer sagt, dass es Märchen sind? Vielleicht sind es wahre Geschichten, die nur ein bisschen übertrieben wurden – wie der Klatsch der feinen Gesellschaft.«
Olivia spürte, wie sie auf seinen ansteckenden Humor reagierte, und wehrte sich dagegen. »Oh, wie das Märchen von der spielsüchtigen Countess.«
Er lächelte schief. »Das will ich doch hoffen.«
Sie nickte. »Also wärst du, wenn ich dich früher geküsst hätte, nicht bewusstlos gewesen?«
»Nein. Ich wäre nur früher wieder aufgewacht.« Er grinste, seine grünen Augen leuchteten in seinem blassen, zerschundenen Gesicht. »Glaubst du wirklich, ich könnte dich im Stich lassen, Liv?«
Olivia war stolz auf sich. Sie gab sich nicht der Wut hin, die sie mit einem Mal erfasste. Ob sie es sich vorstellen konnte, dass er sie im Stich ließ? Selbstverständlich konnte sie sich das vorstellen. Sie konnte es sich vorstellen, weil er sie im Stich gelassen hatte.
Er konnte ihr ihre Gedanken offenbar ansehen, denn Jack runzelte
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