Unverstanden
über seine eigenen Füße, als
er versuchte, mit ihr Schritt zu halten. »Es war furchtbar da drinnen«, sagte er. »Sie haben ja keine Ahnung, was das mit einem Mann anstellt. Das sind Tiere. Ich fühle mich so …«
»Sie waren weniger als vierzig Minuten da drin«, sagte An und tippte einen Code in eine Tastatur neben der Tür.
»Wirklich?«, fragte er, überrascht, dass es nicht mindestens eine Stunde gewesen war. »Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Vielen herzlichen Dank, dass Sie …« Erst jetzt registrierte Martins Hirn, was eigentlich passierte. »Hey, wohin bringen Sie mich?«
»Ich lasse Sie gegen ein Kautionsversprechen frei.«
»Was ist mit dem Blut? Mit meinen Fingerabdrücken?«
»Wollen Sie es mir wieder ausreden?«
»Ich … ich will nicht, dass Sie Schwierigkeiten bekommen«, sagte er und meinte es völlig ernst. Vor seinem inneren Auge blitzte das Bild von An im Verhörzimmer auf. War das Besorgnis gewesen, was er auf ihrem Gesicht gesehen hatte, als er auf den Tisch kotzte? Ekel war es nicht - Martin hatte Ekel auf den Gesichtern von genügend Frauen gesehen, um zu wissen, wie er aussah.
»Warum sollte ich Schwierigkeiten bekommen?«
»Weil Sie mich freilassen«, sagte er. »Ich meine, es geht hier um eine ganze Menge Indizien.«
Sie starrte ihn an. Er sah, dass bei ihr ein Augenlid mehr herunterhing als das andere. Im Neonlicht des Korridors waren die Ringe unter ihren Augen noch dunkler. Er wollte sie in seinen Armen halten. Er wollte ihr das hängende Lid aufküssen. Oder besser, das andere zuküssen, weil man durch Druck ein Lid eher zum Hängen brachte als damit ein hängendes Lid zu öffnen; das war ganz simple Physik.
»Sie brauchen einen besseren Anwalt als den, den Sie haben.«
»Max schien doch ganz okay zu sein.« Er hatte Martin tatsächlich einen guten Rat gegeben: Er solle sich an die Weißen halten, sobald er in die Zelle kämme. Wenn es Weiße gegeben hätte, dann hätte Martin das mit Sicherheit getan.
»Ich lasse Sie frei, weil Tests ergeben haben, dass Sandys Blut auf der Stoßstange schon getrocknet war, bevor Ihres dazukam.«
»Das kann man feststellen?«
»Ja«, antwortete sie und klang müde dabei. »Das können wir.«
Martin kratzte sich das Kinn und fragte sich, ob er Kay Scarpetta je wieder würde trauen können.
»Ihr Auto steht auf dem Stellplatz für beschlagnahmte Fahrzeuge. Bleiben Sie sauber«, schärfte An ihm ein. »Sie sind in diesem Fall immer noch unser Hauptverdächtiger.«
»Ja, das kann ich gut verstehen.«
»Außerdem müssen Sie mir sagen, was Sie in der Zeit zwischen dem Abliefern Ihrer Mutter und Ihrer Rückkehr nach Hause getan haben.«
Martin presste die Lippen zusammen.
»Mr. Reed …«
»Ich kann Ihnen versprechen, dass ich Sandy nie etwas getan hätte. Sie hat mich manchmal gefoppt, aber ich weiß, dass sie mich mochte. Wenn Leute einen aufziehen, dann tun sie es manchmal nur, weil sie ihre Zuneigung nicht anders zeigen können.« Martin zuckte die Achseln. »Wenn Sie es so betrachten, waren Sandy und ich im Grunde genommen sogar Freunde.«
An starrte ihn an. Sie seufzte schwer und heiser vor Erschöpfung. Martin dachte daran, was er alles tun würde, wenn er sie ganz für sich hätte: ihr über die Haare streichen, ihr die Füße massieren, ihr die Glühbirnen auswechseln (auch wenn es an der Decke Spinnen gab). Er würde lernen, für sie zu kochen. Die Kunst der Liebe würde ihm praktisch zufliegen, so wie ihm in der neunten Klasse Makramee und Modellschiffbauen zugeflogen waren.
Und hatte seine Mutter nicht noch immer ein paar seiner Schiffe oben auf den Küchenschränken stehen? Evie würde sie nach all den Jahren nicht immer noch so präsentieren, wenn sie sie nicht gut finden würde.
»Mr. Reed?«
Sie hatte etwas gesagt, und er hatte es nicht mitbekommen. »Ja?« , Liebes.
» Gehen Sie.«
Er sah, dass sie ihm die Tür aufhielt. Ein Mann in einem Käfig hielt den Umschlag mit Martins persönlicher Habe für ihn bereit. Er drehte sich um, weil er sich bei Anther bedanken wollte - eigentlich, weil er sie noch einmal ansehen wollte -, aber da war nur noch die Tür, die ihm beinahe ins Gesicht knallte.
Während Martin auf ihn zuging, sagte der Mann in dem Käfig: »Zählen Sie Ihr Geld, kontrollieren Sie Ihre Sachen und unterschreiben Sie hier.«
Martin befolgte jeden Schritt, zählte das Geld bis zum letzten Penny und schaute sogar in seiner Brieftasche nach, ob ein nicht eingelöstes Rubbellos noch da war.
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