Unverstanden
Dachau.«
Und so stellte er sich die Sache vor: Eine derbe junge Frau empfängt ihn barfuß und mit einem Ring in der Nase an der Tür. Vielleicht gibt es schönen, heißen Tee und Plätzchen. Windspiele bimmeln, vielleicht erfüllt das Plätschern eines kleinen Brunnens die Luft. Gab es so etwas wie heilende Hände? Martin hatte in einem seiner Magazine von einer Studie gelesen, bei der Hasen als Versuchstiere für ein Cholesterinmedikament benutzt worden waren. Eine der Hasengruppen zeigte erstaunlich positive Resultate, und später stellte sich heraus, dass der Wärter der Gruppe den Tieren bei der Fütterung den Rücken gestreichelt hatte. Konnte so etwas auch bei Martin passieren? Konnten die liebenvollen Berührungen eines anderen menschlichen Wesens etwas tief in ihm drinnen ansprechen und ihn in ein glückliches Wesen verwandeln?
»Ich komme etwas später«, hatte Martin zu seiner Mutter gesagt, und war wieder angefahren, kaum dass sie ausgestiegen war.
»Scheiße, was soll …«, schimpfte sie, kurz bevor die Vorwärtsbewegung die Tür zufallen ließ.
Beim Fahren spürte Martin, dass ihn allein der Gedanke an die Massage schon entspannte. Er raste sogar, jagte den Cadillac mit fünf Meilen über der erlaubten Höchstgeschwindigkeit durch die Stadt. Er stellte sich diese neue, verwegene Seite seiner selbst vor. Was würde Unique morgen sagen, wenn er beiläufig ins Gespräch einfließen ließ, dass er sich eine Massage hatte geben lassen? Wäre er deswegen so eine Art Metrosexueller? Würde er anfangen, bei seiner wöchentlichen Rasur parfümierte Rasiercreme zu benutzen? Würde er sich die Füße pediküren lassen wie Unique? Ha! Wie lustig sie das finden würde. Und wie neidisch sie wäre!
Er bog auf den Parkplatz und parkte direkt vor Madam Glitter’s Eingang. Doch kaum war er ausgestiegen, verließ ihn sein Hochgefühl. Schwere Vorhänge verhüllten die Fenster. Auf der Tür klebte ein großer Behinderten-Sticker, darunter stand: »Spezialisten für spezielle Bedürfnisse«. Am schlimmsten war jedoch das Schnellrestaurant gleich nebenan, denn als Martin Madam Glitter’s
betrat, überwältigte ihn der Geruch von gebratenem Hähnchen.
»Willste’ne Massage?«, fragte die Frau hinter der Empfangstheke. Sie war korpulent, wahrscheinlich eine der korpulentesten Personen, die er je gesehen hatte (und das hieß einiges, denn auf Evies Seite der Familie gab es einige sehr fleischige Frauen).
»Ich wollte äh …« Martins Füße verspürten den Drang, sich rückwärtszubewegen.
»Fünfzig Dollar. Kreditkarten nehmen wir keine.« Die Frau nickte zu einer geschlossenen Tür. »Geh da rein und zieh dich aus, ich bin gleich bei dir.«
Martin war wie erstarrt, er blieb, wo er war.
»Beweg dich«, bellte sie, und Martin trat auf die Tür zu.
In dem kleinen Massagezimmer war der Hähnchengeruch noch stärker. In der Mitte stand ein Tisch mit einem Handtuch an der Stelle, wo Martin seinen Hintern hinlegen sollte. Er nahm seine Ansteck-Krawatte ab und hängte sie über einen Haken an der Wand. Seine Hände zitterten, als er das Anzughemd aufknöpfte, und er kam sich deswegen lächerlich vor, denn hier ging es schließlich um eine therapeutische Massage, nicht um ein Rendezvous, mein Gott!
Dennoch, wie lange war es her, dass er nackt vor einer Frau gestanden hatte? Er versuchte, sich zu erinnern. In der Highschool hatte es ein Mädchen gegeben, eine nette, junge Dame, die zur Behandlung ihrer Rückgratverkrümmung ein Korsett tragen musste. Wendy. Martin lächelte bei dem Gedanken an sie, an die Art, wie sich ihr krummer Rücken in seiner Hand angefühlt hatte. Wenn sie nur nicht weggegangen wäre, auf eine Eliteschule für Hochbegabte in Atlanta. Dann war da noch Marcia gewesen, die Frau, die in dem Gemischtwarenladen in Martins Straße arbeitete. Dabei hatte es sich allerdings um ein Missverständnis gehandelt. Leider hatte Martin das erst begriffen, als er bereits völlig nackt war, Marcia dagegen noch völlig bekleidet und eben dabei, die Tür hinter sich zu schließen.
Die Tür ging auf, und Martin schnappte sich das Handtuch und bedeckte seine Blöße.
»Ich muss schnell machen«, sagte die Frau und hob seine Hose vom Boden auf. Im Reden zog sie seine Brieftasche heraus. »Mein Junge hat die Grippe. Erst dachte ich, ist ja nur eine Ausrede, damit er früher aus der Schule rauskommt, aber dann hat seine Schwester angerufen und gesagt, er hat Fieber.«
Martin sah zu, wie sie fünfzig Dollar
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