Unverstanden
Supply sollte inzwischen geschlossen sein. »Ich fahre in die Arbeit, um meinen Schreibtisch auszuräumen«, sagte er ihr und spürte, wie ihn Traurigkeit überkam. Warum hatte man ihn nur gefeuert? Warum sollte Norton Shaw ihm das antun? Martin war noch wegen keines Verbrechens verurteilt. Er hatte Sandy gemocht. Warum um alles in der Welt sollte er sie töten? Und wie hätte er sie töten können? Er konnte keiner Fliege etwas zuleide tun.
Evie starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Wenn du wirklich unschuldig wärst, würdest du Southern Toilet Supply wegen dieser Kündigung verklagen.«
»Ich bin unschuldig!«, schrie er. »Mutter, du weißt, dass ich gestern Abend zu Hause war.«
Sie grinste breit wie ein Honigkuchenpferd. Sie wussten beiden, dass das nicht ganz der Wahrheit entsprach.
Es schien passend, dass Martin mit dem Auto seiner Mutter zu Southern Toilet Supply fuhr. Er kam sich vor, als würde er in einem Janet-Evanovich-Roman leben, und so war es ganz natürlich, dass er, wie Stephanie Plum, hinter dem Steuer des taubenblauen Cadillacs einer älteren Verwandten saß. Seine Geschichte war allerdings keine Krimikomödie. Das alles passierte im wirklichen Leben. Und wie um die Sache bewusst noch auf die Spitze zu treiben, bremste Martin, als er das polizeiliche Absperrband am Tatort des Mordes an Sandy sah.
Arme Sandy. Arme, vernichtete Sandy. Sicher, sie hatte ihn geneckt, aber das hieß doch nicht, dass sie den Tod verdient hatte. Das hatte sogar Evie gesagt. »Scheint ja ein Klasseweib zu sein!«, hatte sie gerufen, als Martin ihr von dem Fiasko mit dem festgeklebten Sexspielzeug erzählte. (Evie
hatte ihn nach dem Stückchen Gummi gefragt, das sich bei der KlebEx-Aktion auf mysteriöse Weise in seinen Daumen eingebrannt hatte. Sogar zwei Wochen später war die schwache, purpurrote Linie noch immer zu sehen.)
Das Auto hinter ihm hupte, und Martin stieg aufs Gas und verließ den Schauplatz des Verbrechens. Noch immer deutlich unter der zulässigen Höchstgeschwindigkeit fuhr er zu Southern Toilet Supply, denn er dachte daran, dass An ihm eingeschärft hatte, sauber zu bleiben. Er fand diese Warnung sehr nett von ihr, aber An schien eben ein netter Mensch zu sein. Noch immer musste er an den besorgten Blick denken, mit dem sie ihn im Verhörzimmer angeschaut hatte, bevor sie vom Stuhl aufgesprungen war, um der Kotze auszuweichen, die den Tisch überflutete. Er hoffte, dass sie noch Kopien der Fotos besaß, die er ruiniert hatte. Sie würde sie für den Fall brauchen.
Das Auto hinter ihm scherte auf die Gegenfahrbahn aus und reihte sich mit plärrender Hupe vor dem Cadillac wieder ein.
»O Gott«, murmelte Martin und riss am Lenkrad, um Platz zu machen. Die Räder holperten übers Bankett, Martin packte das Steuer fester, stieg auf die Bremse und bog ziemlich scharf auf den Parkplatz eines kleinen Einkaufszentrums ein.
Das Auto kam schwankend zum Stehen. Als Martin den Kopf hob, sah er, dass in der spätnachmittäglichen Dämmerung eben eine Neonreklame ansprang.
Madam Glitter’s. Wenn Martin wirklich in einem Roman wäre, dann wäre dies das klassische Beispiel für eine Vorankündigung. Oder war es so etwas wie ein nachträglicher Hinweis? Denn die Sache war ja bereits passiert.
Die Wahrheit war, dass Martin seine Mutter tatsächlich gefahren hatte, damit sie ihr Grabschäufelchen aus dem Geräteschuppen des Pfingstrosenclubs holen konnte, der direkt gegenüber des Einkaufszentrums lag, in dem Madam Glitter’s untergebracht war. Martin hatte im Cadillac seiner Mutter gesessen (sie wollte nicht in dem »Schlappschwanz-Mobil« gesehen werden) und hatte zu dem Schild hinübergeschaut, das im Abendlicht funkelte. »Gestresst? Müde? Erholungsbedürftig?«, hatte der Schriftzug gefragt. »Professionelle Massage zu vernünftigen Preisen! Gern auch ohne Termin!«
Martin hatte noch nie eine Massage bekommen, aber seit er drei Stunden lang die Überreste des vibrierenden Dildos von seinem Schreibtisch gekratzt hatte, brachte sein Rücken ihn um. Sein Nacken war steif, und direkt unter dem Schulterblatt
hatte er einen Knoten, der sich anfühlte, als würde ihm ein Messer zwischen die Rippen gestoßen, sobald er den rechten Arm bewegte. Wofür war eine Massage gut, wenn nicht genau für so etwas?
Auf der ganzen Fahrt nach Hause dachte er nur an die Massage und achtete nicht weiter auf Evies Gejammer über »diese Schlampe, die den Gartenclub führt, als wäre sie die Ober-Nazi in
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