Unzaehmbares Verlangen
keinen Widerstand. Sie ließ sich gehorsam aus dem Raum in den Gang führen. Im grellen Licht der Lampen wirkte ihr Gesicht erschreckend blaß.
»Ich werde deine Ärztin anrufen und ihr sagen, daß wir auf dem Weg ins Krankenhaus sind«, erklärte Letty.
»Nein. Warte.« Stephanie packte Letty am Arm und hinderte sie daran, zur Telefonzelle zu laufen. »Es geht mir gut. Alles in Ordnung.«
»Aber du siehst aus, als hättest du gerade ein Gespenst gesehen.«
Stephanie brach unvermittelt in Tränen aus. »Das habe ich auch.«
Letty sah sie verblüfft an. Sie konnte kaum glauben, daß ihre sonst so beherrschte, kühle Stiefmutter plötzlich ihre Gefühle zeigte. Instinktiv legte sie die Arme um Stephanies Schultern und drückte sie an sich.
»Was ist denn los, Steph? Sag es mir. Vielleicht kann ich dir helfen.«
»Ich habe ihn verloren, Letty.«
»Wen?«
»Meinen Sohn. Ich war im dritten Monat schwanger, dann starb er in mir. Ich hatte bereits alles für ihn vorbereitet. Die ganze Zeit war ich damit beschäftigt, Namen auszu-suchen und Babykleidung einzukaufen, und dann war er plötzlich tot.«
Letty schloß für einen Moment die Augen. »Das tut mir sehr leid.«
»Ich habe furchtbare Angst, Matthew Christopher auch zu verlieren. Meine Furcht wird jeden Tag stärker. Ich glaube manchmal, verrückt zu werden.«
Letty drückte sie sanft an sich. »Das wird nicht geschehen. Er ist sehr lebendig, strampelt in deinem Bauch und fühlt sich gut. In einigen Wochen wirst du ihn in den Armen halten. Du hast eine der besten Ärztinnen der ganzen Stadt und einen Platz in einer hervorragenden Klinik reserviert.«
»Ja, ich weiß, aber es könnte trotzdem etwas schiefgehen.«
»Dein Baby ist gesund und stark. Hast du vergessen, daß es die Gene meines Vaters in sich trägt?«
»Aber es hat auch meine. Und ich habe schon einmal ein Kind verloren. Vielleicht stimmt mit mir etwas nicht. Ich könnte Matthew Christopher verlieren, weil es in meinen genetischen Anlagen einen Fehler gibt.«
»Unsinn. Alles wird gutgehen, Stephanie.« Letty wiederholte den Satz mehrmals, um ihre Stiefmutter zu beruhigen. »Wenn es an der Zeit ist, werden sich anerkannte Ärzte um dich kümmern, die die neuesten technischen Hilfsmittel zur Verfügung haben.«
Stephanie hörte auf zu schluchzen und hob den Kopf. Ihr Gesicht war rot und verschwollen. Sie holte ein Taschentuch hervor. »Es tut mir leid. Ich habe mich benommen wie eine Närrin. Zur Zeit habe ich mich anscheinend nicht ganz unter Kontrolle.«
»Du bist schwanger, Stephanie«, sagte Letty lächelnd. »In den Artikeln, die ich darüber gelesen habe, heißt es, es wäre ganz normal, wenn man in dieser Zeit manchmal überreagiert.«
»Ich möchte nicht, daß Morgan mich so sieht.« Stephanie putzte sich die Nase und wischte sich die Augen. »Er würde es nicht verstehen, wenn ich mit einemmal ganz anders bin.«
»Hast du ihm von deiner Fehlgeburt erzählt?«
»Nein.« Stephanie steckte das Taschentuch zurück in ihre Handtasche. »Es ist ja schon so lange her. Ich war noch nicht einmal ein Jahr verheiratet. Danach wurde ich nicht mehr schwanger. Ich hatte die Hoffnung bereits aufgegeben
- bis ich Morgan kennenlernte. Als ich es dann erfuhr, war ich sehr glücklich. Und auch Morgan schien begeistert zu sein.«
»Das ist er auch. Ich glaube, er freut sich darauf, an der neuen Generation alles auszuprobieren, was ihm bei mir nicht ganz gelungen ist.«
»Ich hatte von Anfang an schreckliche Angst. Und sie wird immer stärker, Letty.«
»Du hättest schon viel eher darüber sprechen sollen«, erwiderte Letty sanft. »Ich glaube, du solltest Dad davon erzählen.«
»Er wäre entsetzt über mein irrationales Verhalten.«
»Unsinn. Mein Vater wuchs auf einer Farm auf. Bevor er seinen Doktortitel erwarb, war er ein ganz gewöhnlicher Mensch vom Lande. Eigentlich ist er sehr mitfühlend und verständnisvoll. Sonst hätten Mom und ich es wohl nicht mit ihm ausgehalten.«
Stephanie schüttelte den Kopf. »Er glaubt, ich wäre wie er. Deshalb hat er mich geheiratet. Eigentlich stimmt das auch, aber seit ich schwanger bin, kann ich nur noch daran denken, daß ich auch dieses Baby verlieren könnte.«
»Ich kenne meinen Vater seit neunundzwanzig Jahren, und ich kann dir versichern, daß er sich nicht immer kühl und überlegen verhält. Als ich damals mit dem Fahrrad stürzte und mit einem gebrochenen Handgelenk ins Krankenhaus gebracht wurde, drehte er beinahe durch. Mom mußte mehr
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