Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
verantworten hat, sondern auch vor der Geschichte. Und die meisten können sich immer noch nicht damit abfinden, dass die große Konjunktur zu Ende ist; dass morgen, wenn sie das Morgen erleben, wieder jeder Einzelne durch Talent, Fleiß und konkurrenzfähige Qualität beweisen muss, dass er ein Recht hat zu leben; und dass es nicht reicht, nur »Christ« zu sein …
In meinem Alter ist es nicht mehr leicht, die Heimat zu wechseln; für einen Schriftsteller, der überhaupt nur in der Atmosphäre seiner Muttersprache atmen kann, ist es fast unmöglich. Dennoch muss man weg von hier, sobald es möglich ist.
Wenn möglich, mache ich dort weiter, wo ich vor zwanzig Jahren begonnen habe; ich verdinge mich als » Auslandskorrespondent « irgendeiner ungarischen Zeitung. Im Westen [im Manuskript ursprünglich: Paris ist doch die einzige Stadt, wo …] finde ich vielleicht etwas von der verlorenen Heimat, wo ich dann – heimatlos und fremd – dennoch einigermaßen zu Hause bin.
Doch die Verachtung, die mich jetzt ganz und gar erfüllt, jetzt, da ich das wahre Gesicht der ungarischen Gesellschaft erkannt habe, kann ich nicht mehr ablegen. Ich muss weg von hier.
Ich glaube daran, dass Gott, der Weltgeist, von allem weiß, alles durchdringt, allem Sinn gibt und mit allem etwas bezwecken will. Amen.
Am Morgen ein martialischer Russe; er sucht Männer, ganz allgemein, also diesmal keine Deutschen, Männer zur Arbeit, weil die Landstraße zwischen Esztergom und Szentendre mit Tellerminen gesichert wird. Ich stelle mich vor, er mustert mich mit strengem Blick; dürfte eine Art Feldwebel sein; mit düsterem Gesicht fragt er, ob ich wirklich Schriftsteller sei? Ich beruhige ihn, sage, dass ich Schriftsteller bin. Er sagt nichts und geht. Er geht zum Rabbiner hinüber und nimmt ihn zur Arbeit mit; nebenan, ein paar Meter von unserem Haus entfernt, verlegen sie das erste Minenfeld; den Rabbiner lassen sie, wie all die anderen, die sie zur Arbeit abgeholt haben, am Abend wieder frei.
Ich weiß nicht, wie lange das Wort »Schriftsteller« für die Russen noch seine Zauberkraft besitzen wird – doch bisher hat es bei allen Besuchen befreiend für mich gewirkt. Sie wissen, was ein Schriftsteller ist; und dass man ihn in einer Gesellschaft braucht; das ist alles, was man aus ihrem Verhalten schließen kann.
Ein junger Mann, Student, der von Római Fürdő zu Fuß nach Visegrád unterwegs ist, berichtet von einem ähnlichen Erlebnis; die Russen wollten ihn unterwegs zur Arbeit rekrutieren; als er sagte, er sei Student, fragten sie ihn, was er studiere. Er beschäftige sich mit Dramaturgie, sei Philologe, sagte er; sie nahmen ihm die Uhr ab und ließen ihn gehen.
Was beweist all das? Nichts und doch sehr viel. In den vergangenen fünfundzwanzig Jahren hat man diesem in außergewöhnlich primitiven seelischen und gesellschaftlichen Verhältnissen dahinlebenden Mammutvolk klargemacht, dass die Kultur ein notwendiges und gutes Irgendwas sei. Dieses Volk ist noch nicht »gebildet«, doch es gibt in ihm ein Bedürfnis nach Bildung, und es achtet jeden, der der Sache der Bildung dient. Das habe ich erlebt, erfahren … Ein Arzt, Ingenieur, Schriftsteller, Wissenschaftler ist in ihren Augen kein »Burschui«, sondern Geistesarbeiter, der einen anderen Lebenswandel hat als die körperlich Arbeitenden; auch das wissen sie. Und wenn sie so weitermachen, werden sie auf den Ruinen der untergehenden westeuropäisch-amerikanischen Zivilisation wahrhaftig als die Menschen der Zukunft erscheinen, und Dostojewski wird recht behalten : Der Mythos vom optimistischen, »erlösenden« Russland kann eines Tages Wirklichkeit werden, Russland könnte Europa neue Kultur bringen … Die Chinesen, Hindus schlummern schon oder immer noch; die Russen sind dabei aufzuwachen. Der Westen lebt in Panik, und sein Lebensgefühl ist erstarrt. Vielleicht werden es die Russen sein, die diese erkaltete Lebensweise mit neuer Energie erfüllen. Jetzt, da ich sie langsam kennenlerne, glaube ich daran.
Aber ich bin Europäer; und für mich persönlich gibt es keine »Erlösung«, ich bin Pessimist. Vielleicht ist keine andere Aufgabe für mich geblieben als das, was Goethe Forderung des Tages nannte ; tun, was der Tag erfordert, und nicht an die Zukunft denken.
Die Kriegslage wird in diesem Abschnitt immer kritischer; die Russen übersäen die Szentendrer Straße vergeblich mit Tellerminen; die Deutschen haben sich bei Esztergom eingeigelt, und man kann nicht wissen, in
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