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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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schöpferisch sein kann wie das faustische Individuum, das sich ständig in die »Tat« flüchtet. Der Nazismus hat Spengler das eine oder andere zu verdanken.
    Er hat aber recht mit dem, was er über den Unterschied zwischenn »Tat« und »Arbeit« schreibt; die Tat ist ein menschliches, die Arbeit nur ein gesellschaftliches Ideal … Doch auch hier ist es schwer, eine gültige Grenze zu ziehen; und gerade Goethe hat auch gesagt: Genie ist Fleiß .
    Kaschau ist gefallen .
    Wir verdienen alles, und jedwede Buße ist armselig, wenn wir die Verbrechen in Betracht ziehen, die diese Gesellschaft im letzten Vierteljahrhundert begangen hat. Wir haben das Verderben angestachelt, es in unser Haus eingeladen. Was das Horthy-Regime zu verantworten hat, ist in der ungarischen Geschichte ohne Beispiel; der Tatarensturm und Mohács sind nur Schatten jener fürchterlichen Wirklichkeit, die diese Generation heraufbeschworen und die sich dann unerbittlich eingestellt hat.
    All das vorherzusehen war nicht schwer; doch die Wirklichkeit schmerzt trotzdem. Man hat sich, wenn auch nicht mit dem Verstand, sondern im Herzen, für das Leid, das zu ertragen war, eine Art Wiedergutmachung erhofft. Aber es gibt keine Wiedergutmachung; nur weitere, andere Heimsuchungen; und alles wird von einem Strudel verschlungen, wir alle, Schuldige und Unschuldige … Mit dem Verstand ist es leicht, mit dem Herzen schwer zu verstehen.
    In diesen Tagen denke ich manchmal, ich kämpfe bis an die Zähne bewaffnet um meine Existenz, ich verteidige mich bewusst und streitbar und suche nach einem Ausweg aus dieser wilden Lage, aus diesem Schlachtfeld; und manchmal glaube ich, Gott führt mich wie einen Blinden an der Hand über entsetzliche Tiefen und Wirbel hinweg.
    Derjenige wird einst recht behalten, der gesagt hat: »Nichts ändert sich, alles bleibt beim Alten, nur die Gültigkeit der Judengesetze wird auf alle ausgeweitet, auch auf die Christen.«
    Kaschau wird in absehbarer Zeit, ja wahrscheinlich nie mehr eine ungarische Stadt sein; die Slawen saugen diese schöne Stadt, die Stadt Rákóczis , in sich auf.
    Das schmerzt jeden Ungarn und schmerzt mich ganz besonders; seit zwei Tagen denke ich an Kaschau wie an einen lieben Toten. Fakt ist jedoch, dass die Ungarn nicht an dem Tag Kaschau verloren haben, als die russischen Truppen dort einmarschiert sind; wir haben es, endgültig, an jenem Tag verloren, als im November 1938 Horthys Truppen vor dem Dom erschienen. Wir haben es verloren, weil wir Reaktion der allerschlechtesten Sorte mitgebracht haben, die Willkür bequemer und habgieriger Beamter, anmaßender, ungebildeter Verwaltungs- und Heeresorgane; weil wir den ungarischen Gnädige-Herren-Geist in eine Stadt brachten, die unter den Tschechen die Demokratie kennengelernt hatte; wir brachten alles mit, was es nach Trianon in Ungarn an Üblem gab. Das Ungarn der Vorrechte, der Bevorzugungen, der Gernegroße, des Pfusches, der Unangemessenheit, der neobarocken aufgesetzten Kultur ist an jenem Tag in Kaschau eingezogen: Diese Stadt hatte eine andere Art von Ungarntum gekannt und eine eher europäische Lebensweise. Damals haben wir Kaschau wirklich, vielleicht für immer verloren. Und wir verdienen Strafe, weil wir uns diese Stadt nicht verdient haben. Es gibt keinen ehrlichen Kaschauer Ureinwohner, der sich in diesen Jahren nicht die Tschechen zurückgewünscht hätte.
    Plünderer. Wahrscheinlich werden sie von den Ungarn geschickt, an die genaue Adresse. Drei uniformierte Rotzjungen mit Wanderstock stellen sich bei Sonnenuntergang ein und durchsuchen die Wohnung, sie geben sich schließlich mit meinem Gillette-Rasierapparat zufrieden; zwei Tage später bleibt zu Mittag ein Auto vor dem Haus stehen, ein russischer Landser steigt aus, er öffnet jede Schublade und jede Schranktür, nimmt unser Mehl mit und eine große Flasche Kölnischwasser; jenes Mehl, das ich vor ein paar Tagen im Rucksack aus Tahi hergeschleppt habe. All das ist eher verabscheuungswürdig als gefährlich. Anderswo wird mehr und mancherlei anderes mitgenommen. Ein russischer Offizier, mit dem Z. tags darauf spricht, erwidert, er hätte den plündernden Soldaten erschossen, wenn er ihn vor die Flinte bekommen hätte; doch so viel ist das Ganze gar nicht wert.
    Diese gesetzlosen Zustände sind bloß das Vorspiel zu irgendwas; und nicht die Russen werden die Hauptdarsteller im Drama sein, das sich ankündigt; die ungarische Revolution reift jenseits all dieser Symptome heran. Wer kann sie

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