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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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aufhalten? Vielleicht gerade die Russen, wenn sie wollen … Und diese Revolution wird, wenn sie doch eintritt, ein gewaltiger Strudel sein.
    Wir leben am Rande des Dorfes in einem einsamen Haus, am Hang eines Hügels. In Erwartung von plündernden Patrouillen und ungarischen Strauchdieben harren wir im Dämmerlicht aus; es gibt keine Behörde, keine Gesetze. Budapest geht zugrunde, es hungert und durstet. So leben wir. Und all das ist noch nicht das Ende dessen, was wir unausweichlich heraufbeschworen haben und was wir verdienen.
    Dennoch ist all das unbedeutend: Die Russen sind mit dem Recht der Waffe in ein Land gekommen, das den Sowjets den Krieg erklärte; sie können hier tun, was sie wollen; sie sind die Sieger. In Wirklichkeit aber erweisen sie sich als eher gutmütig, diese Plünderungen sind eigenmächtige Raubzüge, bei jedem Besatzungsheer kommen in einem besiegten Land solche Übergriffe vor. [Mehrere Zeilen durchgestrichen.] Die Ungarn haben in Russland Schandtaten begangen; vor drei Jahren las ich die ungarischen »Kriegstagebücher« … die Russen sind uns nichts schuldig, und es ist eher verwunderlich, dass sie sich so und nur so benehmen.
    Doch alle Anschuldigungen, jedes Zur-Rede-Stellen, jede Gemütsbewegung gegen die Ungarn ist begründet, sie haben im letzten Jahrzehnt nichts unversucht gelassen, um zu erreichen, dass das ungarische Schicksal auf diese Weise seinen Lauf nahm. Alle, die aus Unbedarftheit oder Habgier dieses Feuer schürten, dieses Gehenna mit ihrem Atem noch stärker anfachten, kann man mit Recht vor den Richter zitieren.
    »Neu beginnen« lässt sich nicht mehr; aber ob man »weitermachen« kann? … Wo und für wen und warum? Immer und ewig diese Qual, dass ich nicht länger an das Material, die Substanz des Ungarntums, glaube, ich glaube nicht an seine Moral, nicht an seinen Charakter.
    Z. hat aus Tótfalu eine ein paar Wochen alte magere Ente mitgebracht. Die erste Nacht sperrten wir sie in die Hundehütte, dort aber fror sie, war schlechter Laune und fraß nicht; ich habe ihr auf dem Steinboden des unbewohnten und unmöblierten Gästezimmers im ersten Stock ein Luxusappartement eingerichtet. Dort quakt sie nun, frisst Mais und taucht ihren Kopf manchmal in die Wasserschüssel; sie ist deutlich besser gelaunt.
    Aber jedes lebende Wesen, das wir in unser Leben aufnehmen, selbst eine Ente, die man zur Mast gekauft hat, bedeutet Verantwortung. Wir beschäftigen uns jetzt viel mit ihr, sie tut uns heute schon leid, und es wird sicher eine sentimentale Tragödie, wenn sie eines Tages geschlachtet werden muss. Im Zusammenhang mit diesem Lebewesen, das im ersten Stock quakt, ist eine Situation entstanden, die an Ibsens Wildente erinnert; und auch die Lebenslügen sind nah, man muss nicht weit gehen, um sie zu finden.
    Es stimmt nicht, dass das Dorfleben »langweilig« und eintönig ist; fast ein Jahr lang lebe ich im Dorf und erinnere mich nicht daran, mich auch nur einmal gelangweilt zu haben. Im Dorf spricht den Menschen alles aus unmittelbarerer Nähe an, die Landschaft, das Schicksal und auch die Menschen. Kleinstädte sind zermürbend langweilig. Doch in einer großen Stadt – in einer richtigen Großstadt, wie Paris eine ist – oder im Dorf kann ich mich nicht langweilen.
    Und die Dorfbewohner, mit denen mich die Zeit allmählich bekannt macht; sie sind nicht minder interessant als die angespannt-unruhigen Neurotiker der Großstadtzivilisation. (Auch sie, die Dorfleute, sind in ihrer eigenen Formensprache neurotisch …) Herr Csámpa, der Schuster, den ich bat, mir einen Fleck auf meine löchrigen Schuhsohlen zu nageln, äußerte wichtigtuerisch, das »hängt von der Kriegslage ab«. Herrn Csámpa haben die einmarschierenden Russen den Ledermantel ausgezogen; seitdem lebt er in vorsichtiger, historischer Allzeitbereitschaft; sein Werkzeug hat er vergraben; und vom Mantelraub spricht er in einem mythischen Ton wie Akaki Akakijewitsch in Gogols Erzählung . Und Herr Herczeg, der Konditor, er erscheint mit seinem schönen bärtigen, biblischen Gesicht wie eine Art heiliger Josef, der sich in seinem Alter den Büchern zugewandt hat und jetzt Tolstoi und Cicero liest. Und Herr Schillerwein, der Alte, der seit fünfundzwanzig Jahren Kommunist in Pócsmegyer ist und jetzt, als auf eine ungarische Anzeige hin die Russen – mit dem Kommentar »Sei nicht traurig, Towarischtsch, du bist Kommunist, freu dich, dass wir, deine Genossen, dir den Wein abnehmen!« – seinen versteckten

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