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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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und menschlicher Beziehung mehr einen persönlichen Bezug haben. Nur schauen, beobachten und die Aufgaben erfüllen, die Gott mir auferlegt hat.
    Budapest ist für mich auf jeden Fall ruiniert, auch wenn das Parlament nicht zerstört wurde; auch wenn meine Wohnung unbeschädigt blieb – die Wahrscheinlichkeit ist allerdings gering –, denn umsonst habe ich eine Wohnung, wenn andere, Zehn-, vielleicht Hunderttausende, keine haben; auch wenn Theater erhalten blieben und Buchhandlungen, wozu, wenn es die zugehörige Bildung nicht gibt, nur Massen, halbe Höhlenbewohner, die gegen die tägliche Not ankämpfen. Aber das ist alles nicht so tragisch für mich wie die feste Überzeugung, dass sich in der jüngsten Vergangenheit die gesamte ungarische Gesellschaft in ihrem wirklichen, ungebildeten und unmoralischen Wesen gezeigt hat, dass sie in den letzen zehn Monaten alle Masken abgelegt und sich als überzeugte Parteigängerin von Diebstahl, Raub, Gewalt und Niedertracht erwiesen hat – auch wenn sie persönlich weder habgierig noch gewalttätig war … Wie diese Gesellschaft allem lüstern abschwor und zu verfolgen begann, was sie in der Tiefe ihres Herzen schon immer gehasst hatte: zuerst die Juden, dann jeden, der für Begabung und Qualität stand, also ihr »christlich-nationales« Geschäft hätte stören können: Das kann man seelisch nicht verwinden, damit kann man sich nicht aussöhnen, darüber kann man nicht zur Tagesordnung übergehen, wir können nicht weitermachen, wo wir aufgehört haben, auch dann nicht, wenn Budapest bleiben würde und Arbeit und Wohnung … Man muss Ungarn verlassen.
    Langsam, ganz langsam erfinden wir irgendwie die Zivilisation; ein paar Wochen lang saßen wir in den Abendstunden im rötlichen Licht, das uns bei offener Ofentür leuchtete; wie die Höhlenbewohner, die im Lichtschein ihrer Feuerstelle lebten. Dann fassten wir uns ein Herz und erfanden jeden Abend für eine halbe Stunde das Kerzenlicht; das war schon ein großer Fortschritt, Mittelalter; und jetzt diese Rockefeller’sche Erfindung, das ist die Neuzeit, der moderne Luxus, die Petroleumlampe, die zwar mühsam flackert, aber trotzdem Licht gibt, und wenn man bei ihrem Licht auch nicht lesen kann, zeigt sie doch die Umrisse der Gegenstände im Zimmer. All das ist, dank der Gnade des Schicksals, wahrhaftiger Fortschritt. Es ist nicht unmöglich, dass ich eines Tages noch mit der Straßenbahn fahren werde, mit einem Kurzstreckenfahrschein; nichts ist unmöglich.
    Nur eines ist unmöglich, so scheint es: der wirkliche Fortschritt. Fortschritt, der nicht elektrisches Licht bedeutet und auch nicht Kunst und Dichtung; der wirkliche, innere Fortschritt, der die menschlichen Massen aus dem Zustand des niederträchtigen Egoismus, der ehrlosen Leidenschaften, der hoffnungslosen Dummheit heraushebt. Die Utensilien des menschlichen Lebens werden immer vollkommener, und in der Masse der Menschen blitzt manchmal eines der großen, einsamen Lichter auf, ein Künstler, Dichter, Musiker, Wissenschaftler. Doch das alles ist kein »Fortschritt«, wenn wir das Ganze betrachten: Das Ganze ist ungebildet und unmoralisch geblieben – jenseits der Blüte von Kulturen, jenseits der Ruinen von Zivilisationen blieb es immer das Gleiche.
    Interessante Nachrichten aus Budapest: Den Ostbahnhof haben die Russen angeblich schon besetzt, nur im Bahnhofsrestaurant kämpfen noch Deutsche.
    All das kann man nicht »begreifen«, ich habe das Schaudern verlernt und auch das Bedauern; man lernt wirklich zu schweigen, auch innerlich, auch mit seinen Gefühlen.
    Manchmal taucht schon der eine oder andere Mensch aus der früheren Welt auf; eine neue Art von sich Verkriechenden, die um Weihnachten außerhalb von Budapest waren und nicht mehr zurückkehren konnten, sie waren von der Besetzung überrascht worden; in ihrer Verlegenheit haben sich ausnahmslos alle einen Bart wachsen lassen und schleichen jetzt vorsichtig auf der Landstraße zwischen den russischen Patrouillen herum …
    Diese Menschen sind verstört; haben Angst; fürchten sich vor den Russen und davor, was kommen und folgen wird, und sie fürchten sich vor ihren Erinnerungen … Auch wenn sie persönlich nichts verbrochen, an den kollektiven Verbrechen der jüngsten Vergangenheit gar nicht teilgenommen haben; ihr Gewissen, wenn sie eines haben, flüstert ihnen zu, dass die gesamte ungarische Gesellschaft für all das verantwortlich ist, was geschah, und sich nicht nur vor den heutigen Richtern zu

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