Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Dorf nach einer Lampe gesucht, und schließlich gab mir eine fremde arme Frau »umsonst, leihweise« – eine Lampe, das Glas dazu und einen Glühstrumpf! Nur die ganz armen Menschen sind noch menschlich geblieben; alle anderen sind Hamster und Raubwild.
Sie stehlen wie die Elstern; von Frachtkähnen, aus Wohnungen; warum sollten sie nicht stehlen? In den letzten zehn Monaten haben sie als Beispiel nichts anderes von ihren Herren und Führern gesehen als institutionalisierten Raub, Diebstahl, Gewalt.
Während ich Schnee schaufle und mir den Kopf zerbreche, wo ich Kartoffeln herbekomme, denke ich daran, dass in Paris sicher schon irgendwo ein französischer Dichter lebt, der ernsthaft beunruhigt und schlecht gelaunt ist, weil man in der letzten Nummer der Nouvelle Revue Française eine abfällige Kritik über seinen Gedichtband geschrieben hat …
Gleichgültigkeit und Objektivität; und dann, wenn der Augenblick und die richtige Gelegenheit gekommen sind: völlige Ekstase und Hingabe an die Welt oder ein Werk.
Die Menschheit ist nichts; die Menschen, auch sie zählen nicht viel; selbst große Menschen zählen nicht; immer nur Krieg und Frieden , die Göttliche Komödie , die Pietà oder die Neunte Symphonie oder der Faust .
Am frühen Vormittag stellen sich die Russen gleich zweimal ein; zuerst sind sie zu zweit, mit Waffen und einem Schäferhund; sie suchen angeblich nach deutschen Fallschirmjägern, die man bei Visegrád abgeworfen hat. Ich kann mich mit ihnen nicht verständigen; eine Zeit lang sehen sie sich um, dann gehen sie. Nicht viel später kommen zwei einfache Soldaten; äußerlich sind es zwei ziemlich wilde Gestalten. Ich biete ihnen Platz an, wir unterhalten uns mit Händen und Füßen. Sie bekommen eine Zigarette angeboten, bitten um Wein; als ich ihnen sage, dass ich keinen Wein habe, nicken sie resigniert. Sie kommen von der Budapester Front und ziehen in Richtung Esztergom; der eine, der wilder aussieht – ein Ukrainer –, beginnt plötzlich lebhaft etwas zu erklären; er tut, als wollte er mit seinem Gewehr zielen, und sagt etwas über die »Hermanns«; so nennen sie die Deutschen. Dann deutet er auf den kleinen Jungen , der in einer Ecke der Stube die Schulaufgaben macht, mit seinen Fingern macht er deutlich, dass auch er zwei Kinder hat und schon seit drei Jahren im Krieg ist. »Hitler!«, sagt er, nicht wütend, eher traurig. Sie bekommen ein wenig Tabak, bedanken sich dafür, stecken ihn ein, drücken mir die Hand und gehen müde fort.
Diese gewisse russische »Menschlichkeit« ist vielleicht doch kein literarischer Begriff, sondern Realität. Rauer und wilder aussehende Bolschewisten habe ich auch auf deutschen und ungarischen Propagandaplakaten nicht gesehen; und diese beiden Menschen waren sanft, freundlich und traurig. Sie raubten nicht, waren nicht gewalttätig, saßen nur müde da; ich bot ihnen Brot an, doch sie winkten ab, sie hätten Brot, ich solle es für uns behalten. Natürlich kann so eine Begegnung auch anders verlaufen, besonders wenn die Russen von niederträchtigen Einheimischen angeführt werden und Wein bekommen.
All das, was diese ungarische Gesellschaft in den letzten zehn Monaten gezeigt hat, kann ich nicht einmal mehr mit Zorn betrachten; ich verspüre nur Verachtung und Ekel.
Es ist verdammt schwer, ohne »Requisiten« zu arbeiten; ohne Bücher, ohne literarisches Umfeld; aber es ist nicht unmöglich.
Der »Rassenschutz« dauert natürlich weiter an, bis ins siebte Glied; jetzt ist es der Rabbiner, der die Rasse schützt; zu Z. , die ihn besuchte und ihm Lebensmittel brachte, sagte er im Vertrauen: »Sie müssen wissen, es sind mir noch Kleider in Óbuda geblieben, bei dem Goi, der meine Sachen hütet …« Sodann bot er im Tausch für die mitgebrachten Sachen ein halbes Kilo Schweineschmalz an und sagte: »Wir können das ja ohnehin nicht essen …« Sie könnten überhaupt nichts essen, auch kein Geflügel, weil »es niemand gibt, der es schächtet …« Sie kauen bloß Brot und essen Suppe und Gemüse, weil alles andere für sie »unrein« ist.
Das sind wilde Gesetze; wer wird die Kraft haben, in den Seelen dieser finsteren christlichen und jüdischen Rassenschützer ein Licht zu entfachen?
Mich selbst zur Einsamkeit unter den Menschen erziehen, wie es die Pflicht der Mitglieder eines strengen mittelalterlichen Ordens war: das Schweigen zu lernen, die Einsamkeit, das völlige und bedingungslose Alleinsein, die Tatsache, dass sie zu keinerlei irdischer
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