Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
die halbe Stunde an, in der wir zu Abend essen; nachmittags um fünf dämmert es bereits, danach sitzen wir im Dunkeln, oder ich betrachte sinnend die Glut im Ofen.
Ich tröste mich damit, dass die Menschen in der hinduistischen, der chinesischen, ägyptischen, assyrischen, griechischen, römischen Kultur, dass die Massen des christlichen Mittelalters in ähnlicher Dunkelheit gelebt haben. Licht am Abend konnten sich vermutlich nur die Privilegierten, die Mächtigen leisten; und was für Licht das gewesen sein mag, das Buddha, Sokrates, Alexander dem Großen oder Luther leuchtete? Rötliche Fackeln, flackernde Ölfunzeln. Das fiat lux , die Epoche der neuzeitlichen Zivilisation, begann mit der Kerze; danach wurde die Welt rasch immer heller. Doch bis dahin lebte, dachte, wirkte, vergnügte sich der Mensch jahrtausendelang und zuvor jahrhunderttausendelang in Dunkelheit und dämmerndem Halbdunkel. Die Menschheit beschenkte sich in diesen Epochen ohne abendliches Licht dennoch mit Kulturen von hohem Wert.
Gewiss kann man in der Dunkelheit nicht schreiben und auch kein Gesellschaftsleben pflegen; aber nachdenken kann man und auch reden. Weil ich nichts anderes tun kann, übe ich mich darin.
Was Spengler »Winter« nennt, also die Endzeit der zur Weltstadt-Zivilisation abgekühlten Kultur, wird, wie er prophezeit, für die Menschen in der europäisch-amerikanischen Zivilisation zwischen 2000 und 2200 eintreten: imperialistische Kriege, die Verschmelzung der Nationen zu einer formlosen, einheitlichen Masse, die Wiederholung von Zuständen wie in der Urzeit der Menschheit und so weiter.
Ich glaube, dieser große Pessimist ist, was seine Prophezeiung von der Ankunft des Winters betrifft, optimistisch: Schon dieses Jahrhundert hat uns den Beginn des Winters gebracht.
Und der Prozess läuft schnell und unaufhaltsam ab.
Aus der Verpflichtung zur »Klärung der Begriffe« wurde auch ein Gemeinplatz. Das soll uns aber nicht die Lust daran nehmen, die Begriffe, die den Sinn des Schicksals bezeichnen, beharrlich zu wiederholen und zu klären.
In Ungarn haben die Führungsschichten in den letzten fünfundzwanzig Jahren eine »christliche, nationale« Politik betrieben. Große Massen schürten dieses Feuer, das die bisherige ungarische Welt schließlich zu Asche verbrannte. Diese »christliche, nationale« Politik verdeckte mit einer Art OTI -Paravent den Umfang der wahren sozialen Probleme, und sie diente in Wirklichkeit nur dazu, dass eine zutiefst ungebildete, habgierige und skrupellose Führungsschicht von der Gesellschaft für sich und ihre Mischpoche ohne Wissen, Talent oder Moral Privilegien fordern konnte. Im Zeichen des »christlichen, nationalen« Gedankens wollten sie sich ohne fachliches Wissen und ohne Gewissen bereichern, gesellschaftlich aufsteigen und herrschen. Das ist ihnen zum Großteil auch gelungen. Sie betrieben Simonie mit der großen Idee des Christentums, sie verkauften ihr Christentum wie geistliche Ämter und Devotionalien. Die große Idee der Nation wurde von ihnen verdreht und geschwungen wie eine Keule; alle, die es wagten, über die Zukunft der Nation anders zu denken als sie, die ihrer Klasse und Abstammung nach glaubwürdige Christen und Nationale waren, bekamen eins ins Genick. Apotheker, Schriftsteller, Ärzte, Wissenschaftler, Ingenieure konnten in ihren Augen nur jene sein, die auf »christlich-nationaler« Grundlage Apotheker, Schriftsteller oder Ärzte waren.
Das bedeutete es, politisch »rechts« zu sein: Ein künstlicher und gewalttätiger Vorwand, unter dem man, ohne dafür geeignet zu sein, zu besonderem Ansehen und darüber hinaus auch zu Geld kam. Und weil das Material, aus dem man das Land aufbauen muss, nach dem Zusammenbruch dasselbe bleibt, stellt sich die Frage, ob nun die Zugehörigkeit zur politischen Linken die Voraussetzung fürs Nach-oben-Kommen sein wird, auch für nicht geeignete Personen? Davor muss man sich hüten, wenn dies möglich ist.
Ich bin so einsam, dass ich in der Dunkelheit mit mir selbst Begrifferaten spiele.
Erste Nachrichten aus Szentendre, die die Gerüchte über die russischen Soldaten bestätigen. Die russische Kommandantur bestraft die Täter, wenn sie ihrer habhaft wird. Das gelingt nicht immer.
Zwei junge Mädchen liegen im Krankenhaus, sie sind sechzehn, siebzehn Jahre alt. [Eintrag durchgestrichen.]* [* Im Folgenden werden Sándor Márais eigene Anmerkungen im Manuskript auf diese Art gekennzeichnet.]
In der Abenddämmerung stellt sich D. Sz.
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