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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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wollen.
    Vor dem Egoismus, der Aufdringlichkeit, den Angriffen der Menschen kann man sich nicht schützen; ihre Undankbarkeit ist genau so maßlos wie ihr gnadenloser, jammernder Egoismus im Moment der Gefahr. Ich kann mich innerlich nur dagegen schützen, indem ich den, der ich bin, im Innern mit keiner Forderung und keinem Angriff verletzen lasse.
    Die Nachricht vom Durchbruch auf der Linie Székesfehérvár–Bicske erreichte uns am Heiligen Abend, sie war ein schönes Weihnachtsgeschenk. Doch jetzt, am Dreikönigstag, muss der Weihnachtsbaum abgeräumt werden. Das ist bei allem so, immer; warum wunderst du dich? [Eintrag durchgestrichen.]
    Wenn ich überlebe, werde ich noch lange hierbleiben, in diesem kleinen Haus, wenn es mich und dieses kleine Haus noch gibt; und ich bitte die Besitzer, wenn sie denn einmal wiederkommen, mir im Haus ein Zimmer zu geben. Ich will lange hier leben; hole mir vom Brunnen Wasser, aus dem Wald Holz wie bisher; ich lese und schreibe dieses Tagebuch und was mir gerade einfällt; und dann, bei erster Gelegenheit, verlasse ich dieses Land, in dem Ungarn, Deutsche, Juden gleichermaßen die wahre Bildung abgelehnt haben.
    Am Nachmittag des Dreikönigstages sehe ich das erste Mal größere Einheiten der russischen Streitkräfte durchs Dorf ziehen. Sie sind in Richtung Esztergom unterwegs: Artillerie, Kavallerie und Train. Das ist der kritische Tag, an dem die Deutschen im Rahmen eines Entsatzversuchs bei Komárom und im Raum Esztergom mit aller Kraft angreifen. Seit zwei Tagen ist der Kanonenbeschuss so stark, dass mir vom Lärm die Ohren geradezu schmerzen. Parallel zu unserem Haus wurden im Maisfeld von den Russen fünf schwere Geschütze aufgestellt, mit Esztergom als Zielgebiet; das kann aus Vorsicht oder zur Vorbereitung geschehen sein, die Lage ist sicherlich gefährlich, und die Russen sehen sich möglicherweise gezwungen, dieses Ufer aufzugeben; dann sind wir in der Schusslinie; und eine neuerliche deutsche Besetzung erwartet uns, mit allen vorstellbaren Folgen; und sicherlich auch neue Kämpfe, wenn die Russen wiederum zum Sturm ansetzen. All das mag wohl gefährlich sein, aber wir sind hilflos; verteidigen können wir uns nicht mehr; ich habe eine Kerze und eine Flasche Wasser in den Keller gebracht. So warten wir auf die Nacht und auf die kommenden Tage.
    Dieser russische Truppenverband zog nicht vorbei, als wäre er auf der Flucht; allein die Offiziere und Unteroffiziere sprengten mit ihren Pferden die Straße entlang; die Artillerie und der Train trotteten ebenso ungerührt dahin wie ein paar Wochen früher die ungarische Artillerie und der Train; auch auf Wagen, zerzaust und strubbelig, ein wenig wie die Zigeuner. Die Deutschen flitzten immer mit Motorrädern umher; der russische Zug besteht, wie der ungarische, fast nur aus Pferdewagen. Doch er ist gut organisiert, das sieht auch der Laie. Und die Reiter fühlen sich auf ihren Pferden außergewöhnlich wohl; sie galoppieren, sprengen dahin, nach vorn und wieder zurück, in den Händen eine aus roten Riemchen geflochtene Knute, die Karbatsche; unter ihnen ganz urtümliche, östliche Gestalten und andere, die aussehen, als würden sie aus Puschkins Onegin hervorgaloppieren: im gut geschnittenen Mantel mit rot gefütterter Pelzmütze, Backenbart, schneidige Lenskis und Onegins.
    Sie strotzen vor Kraft und sind auf ihre lockere Art doch diszipliniert und beherrscht.
    Die lokale »Intelligenzija«, also jener Teil der Intellektuellen, der nicht mit den Deutschen geflüchtet ist, wünscht sich das Bleiben und den Sieg der Russen; die kleinen Leute von der Straße verstecken sich und halten eher den Deutschen die Daumen. Also: die Bourgeoisie erwartet – für sich selbst und für die Nation – etwas von den Bolschewisten, die Proletarier auf dem Dorf sind argwöhnisch. So sieht die derzeitige Lage aus.
    Der Krieg ist das größte Übel im Leben des Menschen; und dieser Krieg, der gleichzeitig horizontal und vertikal tobt, ist das Übel überhaupt. Was mussten wir schon erleben, und was werden wir noch erleben müssen! Wenn ich daran denke, dass die Deutschen und ihre ungarischen Schindknechte, die Pfeilkreuzler, zurückkehren könnten – und dies ist leider so unmöglich nicht, wenn auch nur für kurze Zeit und vorübergehend! –, neuerlich würden das Rauben, das Morden, die widerrechtlichen Verordnungen beginnen, die Verdächtigungen, die Verschleppungen: Dann will ich lieber nicht mehr leben. Jetzt sehen wir, dass die Russen

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