Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Nachbar – vor Kurzem noch leidenschaftlicher Nazifreund – hat einen russischen GPU -Offizier zum Abendessen eingeladen. Während des Abendessens fragten die Gastgeber, was die Bolschewisten von den Juden hielten? Der Offizier zuckte mit den Schultern und sagte: »An die Arbeit mit ihnen, wie mit allen anderen.«
Das beklagenswerte ungarische Judentum, von dem der größte Teil schon umgekommen ist, und das jetzt, in der Budapester Gehenna, röchelnd um sein verbliebenes Leben ringt: Während der russischen Besatzung kann es für wenige Wochen seine Wunden zur Schau stellen, die wahrlich grauenhaft sind und jedwede Anteilnahme verdienen. Die Russen sind von diesen Wunden nicht übermäßig berührt. Sie mögen die Juden nicht besonders; aber die Juden werden von ihnen auch nicht verfolgt. Und das ist ein großer Unterschied. Doch das Judentum wird sich, wie mein Rabbiner gesagt hat, nach der ersten »Enttäuschung« mit wenig zufriedengeben müssen: Es wird nicht weiter verfolgt, weder aus rassischen Gründen noch persönlich. Die große Masse der Juden gehört dem Bürgertum und dem Kleinbürgertum an – in ihrem Fühlen ebenso wie in der Lebensweise –, und nachdem die ersten Wochen vergangen sind, oder auch gleich, werden die Juden das Schicksal der Mittelschicht und des Kleinbürgertums teilen, das so sein wird, wie es kommt; es wird jedoch für die Juden nicht anders sein als für die Christen. Viele von ihnen, die Armen, erwarten von den Russen irgendein karitatives Wunder, Wiedergutmachung, materiellen und moralischen Schadenersatz; doch wie ich die Russen zu kennen glaube, kann davon keine Rede sein. Alles, was sie bekommen können, ist die Bestrafung der Judenmörder, genau wie die aller anderen, die für Krieg und Gewalt verantwortlich sind; und sie werden nicht mehr verfolgt, die Juden, wegen ihrer Abstammung; und dann geben sie ihnen nicht nur die Möglichkeit zu arbeiten, sondern verpflichten sie dazu. Die einfältige Vorstellung, dass Millionen von Russen in der Ukraine und anderswo gestorben sind, nur um jetzt Aufsichtsratssitze, Aktienpakete und Mietshäuser am Budapester Szabadságplatz an die ausgeraubten und gequälten ungarischen Juden verteilen zu können – ist ein Wunschtraum.
Die Juden wie die Christen können die Judenfrage nur auf eine Art lösen: mit moralischer Aufrichtigkeit und Leistungswettbewerb.
Spengler hat recht: Der gute Geschichtsschreiber ist wie ein Dichter: Er hat eine Vision von den weltlichen Handlungen. Die Geschichtsschreibung, die nur feststellt und einordnet, zeichnet kein Bild von dem Erlebnis, dessen Inhalt das menschliche Schicksal ist, über die Zeiten hinweg, sie trägt totes Geröll zusammen, beschriftet es und packt es ein.
Der noli-tangere- Standpunkt von Archimedes ist vielleicht unmenschlich. Doch der einzig mögliche Standpunkt, denn auch die Welt ist unmenschlich.
Zwischen herumlungernden kirgisischen und mongolischen Soldaten und beim Trommelfeuer auf Budapest schreibe ich, völlig ausgelaugt und trotzdem mit ganzer Aufmerksamkeit, so gut ich kann die Fortsetzung der Schwester . Es mag sein, dass sich dieses Verhalten für einen »fühlenden und Anteil nehmenden« Menschen nicht geziemt; aber ich kann nichts anderes tun, bin doch ein Mensch.
Als Abendessen bekomme ich einen Teller aufgewärmtes – vom Vortag übrig gebliebenes – Bohnengemüse; und eine dünne Scheibe Brot, die zehn Tage alt ist; und ein Glas kaltes Wasser vom Brunnen; für eine halbe Stunde zünden wir auch »die« Kerze an; und im Zimmer ist es erträglich lau.
Was für ein Erlebnis! Wo ist der Lucullus, Brillat-Savarin , Traiteur Montaigné, der seine Gäste je mit einem solchen Essen traktiert hat! Diese Bohnen sind wahrhaftig eine Götterspeise! Sie schmecken nach Phosphat, haben auch einen mürben Mehlgeschmack, wunderbare Nährkraft, einen Duft, zergehen auf der Zunge – weil man auch ein Lorbeerblatt dazugegeben hat! –, sie rufen Geschmackserinnerungen wach, wie sie nur große Gourmets haben. Und sie sind lau, nicht gerade warm, weil wir am Abend den Küchenherd nicht einheizen können, wir wärmen das Essen vom Vortag auf dem Zimmerofen – aber es ist lau. Und das zehn Tage alte Brot: Jetzt schmeckt es erst so richtig. Man muss es gut kauen, dann gibt es den wahren Geschmack ab, köstlich! Und das kalte Wasser direkt vom Brunnen! Und gleich stopf ich mir die Pfeife … Mein Gott, wollte ich denn jemals etwas anderes vom Leben?
Ich wollte. Und ich werde
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